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Fundstück #38

#38 Reise in den Osten

Diapositiv mit Ansicht von Gollub (Golub-Dobrzyń) [1]

Diapositiv mit Ansicht von Gollub (Golub-Dobrzyń) am Fluss Drewenz mit der Ruine der Deutschordensburg. Fotografie: Franz Stoedtner, Digitalisat: Mediathek des IKB

Der Glasdiahersteller und Fotograf Franz Stoedtner ist uns schon mehrfach begegnet. Das ist nicht überraschend – nicht nur, weil er als Doktorschüler Herman Grimms dem Institut eng verbunden war, sondern da unsere Sammlung, wie fast jede kunsthistorische Diathek des frühen 20. Jahrhunderts, einen einen beachtlichen Prozentsatz an Bildern Stoedtners enthält. Zudem ist die Erforschung seiner Tätigkeit noch ein Desiderat.

Stoedtner hatte sein Institut 1895 in Moabit, vielleicht bei seiner damaligen Wohnung gegründet. 1904 verlegte er es in direkte Nachbarschaft der Universität in die Universitätsstraße 3a in das gerade fertiggestellte Bürogebäude, das heute die sozialwissenschaftlichen Institute der Humboldt-Universität beherbergt. Damals scheint das Unternehmen sich in steilem Aufschwung befunden zu haben. Hatte Stoedtner in der Anfangsphase wohl noch viel mit fremdem Bildmaterial gearbeitet, führte er spätestens jetzt umfangreiche und systematische Kampagnen mit neuen Originalaufnahmen durch. Er vermerkte dies in Form von gedruckten Beschriftungen „Originalaufnahme (ges. gesch.) Dr. F. Stoedtner, Berlin“ mit der Jahreszahl (1904, 1907 oder 1908).

1908 veröffentlichte Stoedtner einen ersten umfangreichen Katalog unter dem Titel „Deutsche Kunst in Lichtbildern: Ein Katalog, zugleich ein Kompendium für den Unterricht in der Kunstgeschichte“. Im Vorwort betont er seinen Ehrgeiz, vor allem Orte, die bislang wenig dokumentiert waren, aufzusuchen:

„Deutsche Kunst! Als einen ersten Versuch übergebe ich der Oeffentlichkeit nach jahrelanger Arbeit einen umfassenden, deutschen Katalog über Lichtbilder meines Verlages […].Durch selbständige Aufnahme des deutschen Kunstgutes, soweit es an Ort und Stelle geblieben ist, biete ich dem akademischen Lehrer z. T. gänzlich neues Material zum Studium und zur wissenschaftlichen Untersuchung, bekannteres Material in neuer künstlerischer Auffassung und in guten Detailaufnahmen. Grosse Gebiete des Deutschen Reiches habe ich selbst bereist, um – ausgerüstet mit speziell für meine Zwecke konstruierten, technisch vollendeten Apparaten, die die Anwendung von Gerüsten meist überflüssig machen – der deutschen Kunst zu der ihr gebührenden Stellung im Unterricht zu verhelfen; denn – offen gesagt – wer kennt eigentlich die ungeheuren, so wichtigen Schätze, die abseits der grossen Verkehrslinien sich befinden? Ja, wie viele wichtige Werke in besuchteren Orten sind unbekannt oder nicht nach Gebühr gewürdigt!“

Aus Stoedtners Bildern in unserer Sammlung lässt sich eine Reise in die östlichen Gebiete des damaligen Deutschen Reichs herauslesen. Unter den mit „1908“ gekennzeichneten Dias sind – neben solchen von klassischen Kunststätten wie Bamberg, Rothenburg, Nürnberg und Dresden sowie Aufnahmen aus der Berliner Gemäldegalerie – Ansichten von Orten im damaligen West- und Ostpreußen zu finden. Die bislang gefundenen Ortsnamen umfassen ein Gebiet, das Süden von Thorn und im Norden von Danzig begrenzt wird und im Nordosten bis nach Königsberg reicht (s. Abb. 2). Die Fotografien zeigen Bauten der spätmittelalterlich geprägten Bürger- und Hansestädte wie Thorn, Kulm, Schwetz, Neuenburg, Danzig und Königsberg, vor allem deren große Kirchen. In großer Zahl vertreten sind auch die Burgen des Deutschen Ordens, der im Mittelalter das gesamte Gebiet beherrschte, bis dieses schrittweise im 15. Jahrhundert durch das Königreich Polen erobert wurde und später mehrfach zwischen Preußen und Polen wechselte. Nach unserem Diabestand zu schließen, suchte Stoedtner mindestens Rheden, Gollub, Marienwerder, Marienburg, Frauenburg und Lochstedt auf.

Manches, was Stoedtner fotografierte, insbesondere im später von der Sowjetunion und Russland übernommenen Gebiet von Königsberg, existiert heute nicht mehr, da es abgebrochen wurde. In den heute polnischen Gebieten wurde hingegen einiges über den damaligen Zustand hinaus wiederaufgebaut. So ist die Burg Gollub, die in Stoedtners Aufnahme in einer fast altmeisterlichen Landschaftsbild-Komposition als Ruine zu sehen ist (Abb. 1), heute im Zustand des Renaissanceschlosses Zeit des polnisch-schwedischen Königs Sigismund III Wasa rekonstruiert.

Karte mit Markierung der Orte, die bisher der Reise Stoedtners zuzuordnen sind [2]

Abb. 2. Karte mit Markierung der Orte, die bisher der Reise Stoedtners zuzuordnen sind (Zusammenstellung G. Schelbert)

Anhand der vorhandenen Bilder können bislang die wichtigesten Stationen der Fahrt nachvollzogen werden, aber noch nicht die genaue Abfolge. Es wäre zu prüfen, ob sich diese anhand der Bestellnummern rekonstruieren ließe. Etwas verwirrend hinsichtlich des Zeitpunkts der Reise ist, dass Stoedtner sein oben zitiertes, scheinbar ganz im Rückblick gehaltenes Vorwort auf November 1907 datierte, während die Bilder das Datum 1908 tragen.

Denkbar wäre, dass Stoedtner das Vorwort zwar 1907 abgefasst hat, aber dennoch 1908 weiter fotografierte – der Vegetation auf den Aufnahmen nach zu urteilen, sind die hier besprochenen Fotografien im Frühsommer oder Sommer entstanden – und den Katalog tatsächlich erst im späteren Verlauf des Jahres 1908 abgeschlossen und publiziert hat. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass die Reise bereits ein Jahr früher stattfand, und dass das Etikett der mit Jahreszahl bezeichneten „Originalaufnahme“, das Stödtner ja nur in drei Jahren verwendete, eine Art datierter Copyright-Kennzeichnung darstellt.
Eine konkrete Rekonstruktion dieser und anderer Vorgänge sowie der allgemeinen Produktionsabläufe in Stoedtners Firma können freilich nur mit weiterer Forschung, etwa einer Auswertung des Firmenarchivs, das sich im Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte/Foto Marburg befindet, erreicht werden.

(G.S.)

(Dias, die der Aufnahmekampagne zugeordnet werden können, teils in später hergestellten Exemplaren: https://rs.cms.hu-berlin.de/ikb_mediathek/pages/search.php?search=!collection604236 [3])

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Die Diapositive und Fotos aus den Sammlungen des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte tragen verschiedenste Spuren ihrer Herstellung und Nutzung und sind damit immer auch ein Stück Institutsgeschichte, Fachgeschichte oder Medien- und Technikgeschichte.
Die hier in loser Reihe vorgestellten Fundstücke sind als solche gemeint: Immer wieder fallen einzelne Objekte auf – aufgrund ihrer Beschaffenheit, aufgrund ihre Bildinhalte, aufgrund eines sonstigen Umstands – und geben Anlass zu weiteren Beobachtungen, Überlegungen, oder kleinen Recherchen. Wenn sich dann eine erste Geschichte abzeichnet, wird sie hier gelegentlich präsentiert. Nicht als Forschungsergebnis, sondern eher als Beobachtung, Vermutung, Frage, die zu weiterer Forschung führen kann. Zusätzliches Wissen in Form von Ergänzungen, aber auch Korrekturen, ist stets willkommen (mediathek.kunstgeschichte@hu-berlin.de [6]). Im Text geäußerte Einschätzungen geben ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.