Fundstück #31

#31 Barocke Lichträume

Diapositive von Walter Müller-Grah

Walter Müller-Grah, Diapositive mit Aufnahmen der Kirchen in Dürnstein, Steingaden (Wies), Steinhausen, München (St. Joh. Nepomuk) und Vierzehnheiligen. Digitalisate: Mediathek des IKB.

Unter den Dias zur Barockarchitektur im deutschsprachigen Raum, die sich gerade in Katalogisierung befinden, fielen einige Bilder auf, die eine handschriftliche Signatur, wohl des Fotografen, trugen. Der zunächst nicht eindeutig lesbare Namenszug konnte bald entschlüsselt und dem Architekten und Fotografen Walter Müller-Grah zugeordnet werden, über den freilich noch recht wenig bekannt ist.

Die über 100 derartig gekennzeichneten Dias, die vor allem Kircheninnenräume, aber auch Außenansichten sowie Schlösser und Palais des 17. und 18. Jahrhunderts zeigen, fallen nicht nur durch die Beschriftung, sondern vor allem durch ihre Bildgestaltung auf. Anders als in der zeitgenössischen kunsthistorischen Architekturfotografie üblich, etwa bei Franz Stoedtner oder der Preußischen Meßbildanstalt, stehen nicht Totalansichten der Baukörper bzw. der Innenräume im Vordergrund. Kurze Brennweiten und starke Verzerrungen durch Verkippung der Kameraelemente sind vermieden. Anstelle eines symmetrischen Bildaufbaus sind Schrägblicke und die Fokussierung auf Schlüsselstellen wie etwa Gewölbeansätze zu beobachten. Der Fotograf scheut sich dabei nicht vor seitlichem An- und Abschneiden von Architekturelementen, sucht aber nie eine abstrahierende Bildsprache, sondern stellt die Raumsituation stets klar dar. Zumeist zeigen die Bilder eine eher helle, nicht allzu kontrastreiche Tonigkeit, die allerdings teils auch auf ein Ausbleichen des Materials zurückzuführen sein könnte. In manchen Fällen, wo es der Fotograf offenbar dem Objekt für angemessen hielt, werden aber auch extreme Effekte, wie etwa das in den dunklen Raum der Münchner Asamkirche einfallende Gegenlicht, herausgearbeitet (Abb., 2. v. r.).

Die Dias sind vom Fotografen selbst angefertigte Abzüge und stellen somit wertvolle Originale dar. Zwei Stück – es sind Aufnahmen in der Wallfahrtskirche von Vierzehnheiligen – wurden mit dem Datum 1913 versehen. Dies ließ zunächst vermuten, dass Walter Müller-Grah noch einer überwiegend dem 19. Jahrhundert zuzurechnenden Generation angehörte, was jedoch keineswegs der Fall ist. Der 1891 (als Sohn des kölnischen Architekten Alfred Müller-Grah?) Geborene war zum Zeitpunkt der datierten Aufnahmen gerade einmal 22 Jahre alt und starb erst 1976. Letzteres geht aus dem Nachlassverzeichnis des Bundesarchivs (W. Mommsen, Die Nachlässe in den deutschen Archiven, 1971, Nr. 6507) hervor, ebenso wie der Umstand, dass sich ein größerer fotografischer Nachlass im Stadtarchiv München befindet. Einzelnen Nennungen zufolge war Müller-Grah seit den 1930er Jahren Regierungsbaumeister in München, aber offenbar weiterhin nebenbei fotografisch tätig bzw. hat beide Aufgaben möglicherweise miteinander verbunden.

Innerhalb der Spätbarockarchitektur galt sein besonderes Interesse den im Rokokostil ausgestatteten oberbayerischen Kirchen der Asam-Brüder, Johann Michael Fischers und Dominikus Zimmermanns. Zum Hauptwerk des letzteren, der Wieskirche, veröffentlichte er 1936 mit dem ansonsten kaum bekannten Autor Adolf Heckel beim Verlag Langwiesche einen kleinen Bildband, aus dessen Aufnahmen auch einige Dias in der Lehrsammlung aufgefunden wurden (Abb., 2. v.l.). Das Erscheinen der Publikation markiert die Phase eines ungewöhnlich regen Interesses an diesem Bauwerk: Im gleichen Jahr widmete ihm der Kunsthistoriker, Fotograf und Filmer Carl Lamb (1905-1968) – die Auseinandersetzung mit den Lichtwirkungen im Raum noch einmal auf eine neue Stufe hebend – sogar einen Film, betitelt „Raum im kreisenden Licht“. Lamb veröffentlichte 1937 zudem das Buch „Die Wies, das Meisterwerk von Dominikus Zimmermann“, in dem er auch seine filmischen Experimente verarbeitete. Ein Jahr später erschien der Bildband „Barockkirchen in Altbayern und Schwaben“ von Gustav Barthel (1903-1973) mit Aufnahmen des damals überaus bekannten Fotografen Walter Hege (1893-1955), in dem die Wieskirche ebenfalls in Szene gesetzt wurde.

Diese Initiativen sind nicht nur Zeugnis einer allgemeinen Konjunktur, sondern wohl auch direkter Ausdruck des Wirkens einer zentralen Figur der damaligen Kunstgeschichtsforschung. Wilhelm Pinder (1878-1947), der 1927 aus Leipzig auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte in München berufen worden war, hatte der Anerkennung der Barockarchitektur, bevor er sich zeitweilig vor allem mittelalterlicher Kunst zuwandte, mit dem Bildband „Deutscher Barock“ in der ebenfalls bei Langwiesche erscheinenden Reihe „Die Blauen Bücher“ bereits im Jahr 1912 auf breitester Front zum Durchbruch verholfen – auch wenn hier ausgerechnet die Wieskirche fehlte. Mit dem 1933, 21 Jahre später, in der gleichen Reihe erschienen Band „Deutsche Barockplastik“ meldete sich Wilhelm Pinder auf dem Themenfeld der Barockkunst erneut mit höchster Reichweite.

Über seine allgemeine Rolle hinaus stand Pinder jedoch in ganz direkter Verbindungen mit den genannten Personen: Carl Lamb promovierte bei ihm 1935 in München zur „Entwicklung der malerischen Architektur in Südbayern in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts“. Gustav Barthel war ebenfalls zeitweilig Pinder-Schüler und es scheint fast, als habe ihm sein ehemaliger Lehrer für das genannte Buch nicht nur das Thema, sondern auch gleich noch seinen Fotografen Walter Hege, mit dem er in den 1920er Jahren die ikonischen Bände zu den mittelalterlichen Domen in Bamberg und in Naumburg publiziert hatte, überlassen. Aber auch Walter Müller-Grah scheint einen Platz in diesem Gefüge zu besitzen. In Pinders zweiten der genannten Bände der „Blauen Bücher“ von 1933 sowie in den etwa zur gleichen Zeit folgenden Neuauflagen des ersten Bandes sind zahlreiche Aufnahmen von ihm verwendet.

Es ist also nicht nur wahrscheinlich, dass eine persönliche Bekanntschaft zwischen Pinder und Müller-Grah vorlag, sondern auch, dass die in der Berliner Lehrsammlung vorhandenen Dias des Fotografen, die alle keinen Institutsstempel und keine Inventarnummer tragen, über Wilhelm Pinder dort Eingang fanden. Pinder löste 1935 Albert Erich Brinckmann auf dem Berliner Lehrstuhl ab und so ist es durchaus wahrscheinlich, dass er die Dias, die er von Müller-Grah in seiner Münchner Zeit erhalten haben könnte, beim Wechsel nach Berlin mitbrachte.

Müller-Grahs Gestalt kann bislang nur schemenhaft gezeichnet werden. Es wäre nicht nur zu beleuchten, wie einzelne Aspekte des wenigen Bekannten zusammenpassen – etwa der Umstand, dass er in den 1930er Jahren einerseits etabliert im höheren Staatsdienst stand, im zweiten Weltkrieg trotz fortgeschrittenen Alters noch als Offizier tätig war und vielleicht, wie Pinder, einem deutschnationalen Weltbild anhing, aber zugleich 1940 mit dem Designer und Architekten Wolfgang Wersin, der 1934 aus dem Amt des Direktors der Münchner Neuen Sammlung gedrängt worden war, das den Ideen der Moderne verpflichtete Buch „Das elementare Ornament und seine Gesetzlichkeit“ publizierte. Vielmehr stellt die generelle Erforschung seines fotografischen Werks, seiner Verbindungen zur zeitgenössischen Kunstgeschichtsforschung, aber auch seiner Tätigkeit als Regierungsbaumeister noch als Desiderat dar, dessen Bearbeitung aber angesichts einer vermutlich guten Quellenlage wohl erfolgversprechend wäre. (G.S.)

Bibliografische Angaben zu den beiden genannten Publikationen mit Fotografien Müller-Grahs:
Heckel, Adolf: Die Wies. Ein Meisterwerk des deutschen Rokoko. Mit 37 Aufnahmen von Walter Müller-Grah. Königstein, Leipzig (Langewiesche, Reihe der Eiserne Hammer) 1936.
Wersin, Wolfgang von: Das elementare Ornament und seine Gesetzlichkeit. Eine Morphologie des Ornaments. Lichtbilder v. Walter Müller-Grah; Textzeichnungen v. Herthe von Wersin. Ravensburg (Otto Maier-Verlag) 1940.

(Aufruf aller Aufnahmen von Walter Müller-Grah: https://rs.cms.hu-berlin.de/ikb_mediathek/pages/search.php?search=%2C+%40%4025573)

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Die hier in loser Reihe vorgestellten Fundstücke sind als solche gemeint: Immer wieder fallen einzelne Objekte auf – aufgrund ihrer Beschaffenheit, aufgrund ihre Bildinhalte, aufgrund eines sonstigen Umstands – und geben Anlass zu weiteren Beobachtungen, Überlegungen, oder kleinen Recherchen. Wenn sich dann eine erste Geschichte abzeichnet, wird sie hier gelegentlich präsentiert. Nicht als Forschungsergebnis, sondern eher als Beobachtung, Vermutung, Frage, die zu weiterer Forschung führen kann. Zusätzliches Wissen in Form von Ergänzungen, aber auch Korrekturen, ist stets willkommen (mediathek.kunstgeschichte@hu-berlin.de). Im Text geäußerte Einschätzungen geben ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.