Fundstück #42

#42 Breite Straße im Vorfrühling

Von diesem Fundstück zeigen wir ausnahmsweise nur kleine Ausschnitte. Es handelt sich diesmal auch nicht um ein Objekt aus den Diabeständen, sondern um eines aus den Sammlungen der Fotoabzüge. Zu diesen gehört ein Satz von etwa 80 großformatigen Papieren mit Aufnahmen der Preußischen Meßbildanstalt (vgl. Fundstück #33), die wir kürzlich mit der PhaseOne-Kamera digitalisiert haben. Sie zeigen unter anderem Fassaden von barocken und klassizistischen Wohnhäusern in Berlin, die um 1890 mit der Absicht aufgenommen wurden, die durch die rasante Bautätigkeit der sog. Gründerzeit bedrohte Wohnarchitektur Alt-Berlins zu dokumentieren.

(Abb. 1, Aufnahme des Hauses in der Breiten Straße Nr. 3 in Berlin (zerstört), Ausschnitt; Kgl. Preußische Meßbildanstalt, um 1890, Fotograf unbekannt, Digitalisat: Mediathek des IKB (Link zum Grafikserver Digilib, wo der entsprechende Bildausschnitt aufgerufen wird)

(Abb. 2, Aufnahme des Hauses in der Breiten Straße Nr. 3 in Berlin (zerstört), Ausschnitt; Kgl. Preußische Meßbildanstalt, um 1890, Fotograf unbekannt, Digitalisat: Mediathek des IKB (Link zum Grafikserver Digilib, wo der entsprechende Bildausschnitt aufgerufen wird)

Fassaden von Wohngebäunden eignen sich als rechteckige Flächen besonders gut für die fotografische Erfassung. Die Fassade des Hauses Breite Straße 3 – ehemals direkt vor dem Schloss, jetzt zerstört – ist übersäht mit Details, vor allem vielen Beschriftungen, die überwiegend Reklamezwecken dienten und nach heutigen Bau- und Denkmalvorschriften gar nicht mehr zulässig wären. Mit diesen vielen „unfreiwillig“ erfassten Details ist das Foto ein ideales Beispiel für dasjenige Merkmal der Fotografie, das gerade Pioniere wie William Henry Fox Talbot als das typische, die Fotografie von der Handzeichnung unterscheidende ansahen: Nämlich, dass die Fotografie alles, auch das unbedeutendste Detail, unterschiedslos aufzeichnet.

(Abb. 3, Aufnahme des Hauses in der Breiten Straße Nr. 3 in Berlin (zerstört), Ausschnitt; Kgl. Preußische Meßbildanstalt, um 1890, Fotograf unbekannt, Digitalisat: Mediathek des IKB (Link zum Grafikserver Digilib, wo der entsprechende Bildausschnitt aufgerufen wird)

(Abb. 4, Aufnahme des Hauses in der Breiten Straße Nr. 3 in Berlin (zerstört), Ausschnitt; Kgl. Preußische Meßbildanstalt, um 1890, Fotograf unbekannt, Digitalisat: Mediathek des IKB (Link zum Grafikserver Digilib, wo der entsprechende Bildausschnitt aufgerufen wird)

Der dem Digitalisat zugrundeliegende Abzug besitzt ein Format von rund 40 x 40 cm. Bei derartigen Abmessungen würde man normalerweise eine Vergrößerung vermuten, was hier jedoch nicht der Fall ist. Vielmehr handelt es sich um einen Kontaktabzug von einer ebenso großen Negativplatte. Die Messbildanstalt verwendete eigens konstruierte Spezialkameras, die mit derartig großen Platten bestückt wurden. Große Formate waren in der Frühzeit der Glasplattenfotografie, insbesondere wenn es um künstlerische Ansprüche ging, nicht selten. Der bekannte Fotograf Adolphe Braun verwendete für seine monumentalen Landschaftsaufnahmen und Stilleben in den 1860er und –70er Jahren sogar Formate von über einem Meter. Mit steigender Qualität der Emulsionen sowie der zunehmenden Beachtung des (Zeit)Aufwands beim Fotografieren wurden die Glasplatten gegen Ende des 19.Jh. deutlich kleiner.

Die Meßbildanstalt behielt die Großfomate jedoch bei, da sich nur von höchst aufgelösten Abbildungen maßgenaue Aufrisspläne – das eigentliche Ziel der Messbilder – erstellen ließen. Wie auch unser Beispiel zeigt, ging das Repertoire der Meßbildanstalt jedoch von Anfang an über dieses Aufgabenspektrum hinaus: Es entstanden viele Aufnahmen, die nicht zur Anfertigung von Aufrissen, sondern „nur“ als fotografische Dokumentation dienten. Hier führte das große Format natürlich zu einer überaus hohen Bildqualität. Auch bei unserer Aufnahme lassen sich kleinste Details erkennen– bis hin zu Schriften auf Werbeplakaten oder Schildern an Hauseingängen. Klar erkennbar ist außerdem anhand der unbelaubten Bäume, dass das Bild wohl im Vorfrühling entstand.

Für die Online-Konsultation großer Bildformate haben wir den Graphikserver Digilib installiert. Damit lassen sich im mit 600ppi aufgelösten Digitalbild die kleinsten Details, die mit dem bloßen Auge am Abzug kaum erkennbar sind, herausvergrößern und zudem per URL definieren und weitergeben: Das kann ein Werbeschaukasten des bekannten Porträtfotografen Richard Kasbaum sein [Abb. 1], oder die Gaslaterne mit ihren Leitungen und Ventilen [Abb. 2], eines der offenbar bereits damals verbreiteten Fensterthermometer [Abb. 3], oder die Werbeinschrift auf einem Speditionsfuhrwerk [Abb. 4]. Ausgehend vom Gesamtbild können online beliebig viele weitere Details selbst aufgespürt werden.

Bei welcher Gelegenheit das Konvolut der Meßbildabzüge in den Bestand des Instituts gelangte, ist nicht bekannt. Gekennzeichnet als Ausschussware, wurden sie vielleicht unentgeltlich erworben. Überlassungen von Meßbildern verzeichnen die damals von Heinrich Wölfflin verfassten Jahresberichte des Instituts bereits für die Jahre 1903 („dazu kamen gegen 200 Blätter deutsche Architektur, die uns der Herr Minister auf unser Ansuchen geschenkeweise von der Kgl. Meßbildanstalt überweisen ließ“) und 1904 („50 Blätter der kgl. Meßbildanstalt [mittlalterliche deutsche Architektur]“). Auch wenn die Zahl der Abzüge nicht mit den genannten Zahlen übereinstimmt, handelt es sich aufgrund des Stempels offensichtlich um Abzüge, die noch vor dem Ende des 2. Weltkriegs in die – dann leider weitgehend zerstörte – Fotosammlung gelangten.

Daher ist ein Zusammenhang mit der späteren Zuständigkeit des Instituts für das Meßbildarchiv unwahrscheinlich. Die Geschichte der Staatlichen Bildstelle und des Instituts für Kunstgeschichte muss im Einzelnen noch geschrieben werden. Hier sei nur angemerkt, dass das 1945 von der Sowjetarmee nach Moskau abtransportierte Meßbildarchiv im Jahr 1959 nach Berlin zurückgebracht und nun in die Obhut des kunsthistorischen Instituts übergeben wurde. Damit damit war das Institut zugleich schlagartig zu einem der bedeutendsten architekturhistorischen Bildarchive Deutschlands geworden. Die Humboldt-Universität mietete hierfür ein ganzes Geschäftshaus in der Gormannstr. 22 an. Überfordert mit der Verwaltung dieses gigantischen Bestands, der in keinem sinnvollen Verhältnis zu den Bedarfen des Lehr- und Forschungsbetriebs stand, entschied sich die Universität jedoch 1968 für die vollständige Abgabe an die staatliche Denkmalpflege, wo das Bildmaterial bislang allerdings – weder hinsichtlich der Katalogdaten, noch der Bilddaten online zugänglich – bedauerlicherweise der Forschung weitgehend entzogen ist. Es ist davon auszugehen, dass die Negativplatte für unser Fundstück noch heute dort aufbewahrt wird.

(G.S.)

(Datensätze zum Objekt: https://rs.cms.hu-berlin.de/ikb_mediathek/pages/view.php?ref=76297)

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Die hier in loser Reihe vorgestellten Fundstücke sind als solche gemeint: Immer wieder fallen einzelne Objekte auf – aufgrund ihrer Beschaffenheit, aufgrund ihre Bildinhalte, aufgrund eines sonstigen Umstands – und geben Anlass zu weiteren Beobachtungen, Überlegungen, oder kleinen Recherchen. Wenn sich dann eine erste Geschichte abzeichnet, wird sie hier gelegentlich präsentiert. Nicht als Forschungsergebnis, sondern eher als Beobachtung, Vermutung, Frage, die zu weiterer Forschung führen kann. Zusätzliches Wissen in Form von Ergänzungen, aber auch Korrekturen, ist stets willkommen (mediathek.kunstgeschichte@hu-berlin.de). Im Text geäußerte Einschätzungen geben ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.