Fundstück #40

#40 Verhinderte Wissensräume

Diapositive und Abbildungen in Buchpublikation: Bibliothekssäle in Geras und Zwettl

Abb. 1.: Diapositive, Bibliothekssäle in Geras und Zwettl (Niederösterreich); Abbildung Nr. 76 aus Lehmann, Bibliotheksräume, Berlin 1996. Jeweils Reproduktionen nach Aufnahmen von Werner Tschink 1957. Die Diapositive sind vermutlich Reproduktionen nach Abzügen von den Originalnegativen, weisen aber Überbelichtungen und Randundschärfen auf. Digitalisate: Mediathek des IKB

1996 erschien die zweibändige Publikation „Die Bibliotheksräume der deutschen Klöster in der Zeit des Barock“ von Edgar Lehmann, herausgegeben vom Deutschen Verein für Kunstwissenschaft (der im Folgenden als DVKw noch mehrfach genannt wird). Der 1909 geborene Autor war damals 87 Jahre alt und verstarb ein Jahr später.

Ursprünglich war Lehmann vor allem ein Experte für mittelalterliche Kirchenbauten mit zahlreichen einschlägigen Publikationen, beginnenend mit seiner bereits 1937 erschienenen Dissertation „Der frühe deutsche Kirchenbau. Die Entwicklung seiner Raumanordnung bis 1080“, einem korpusartig-typologischen Überblick, der in der Fachwelt weithin rezipiert wurde. Aber auch das Gebiet der Bibliotheksbauten war für Lehmann eine Art Lebensthema. Er hatte es 1947 in der Qualifikationsarbeit für die Ausbildung zum wissenschaftlichen Bibliothekar und erneut in seiner Habilitationsschrift 1950 zum Gegenstand gemacht. Nachdem er seine Ergebnisse noch 1951 auf dem in Berlin noch gesamtdeutsch abgehaltenen Kunsthistorikertag vortragen konnte, gelang es aber offenbar nicht mehr, aus der Habilschrift eine adquate Buchpublikation zu erstellen, obwohl bereits eine Vereinbarung mit dem DVKw getroffen war. Es erschien lediglich 1957 eine eher schmale Übersicht zu einem Nachbarthema, nämlich zu den Bibliotheksräumen des Mittelalters.

Lehmann war zunächst als wissenschaftlicher Bibliothekar, Assistent und schließlich Privatdozent an der Universität Jena tätig, ging aber 1954 nach Berlin an die von Richard Hamann gegründete Arbeitsstelle Kunstgeschichte an der Akademie und übernahm 1961 nach Hamanns Tod deren Leitung. Nach Auflösung der Arbeitsstelle im Zuge einer Neuausrichtung der Akademie wechselte er 1971 ins zentrale Institut für Denkmalpflege der DDR und trat 1974 in den Ruhestand. Er verfasste zahllose Publikationen zum mittelalterlichen Kirchenbau, die auch größere, gemeinsam mit Ernst Schubert und anderen erstellte monografische Arbeiten zu den Domen in Meißen und Halberstadt einschlossen. Zu den barocken Bibliotheksräumen erschienen nur kleinere Aufsätze. Erst nach der Wiedervereinigung eröffnete sich die Möglichkeit, sein Korpuswerk zu den Barockbibliotheken – auf der Basis der jahrzehntealten Vereinbarung mit dem DVKw – zu vollenden.

Der Umstand, dass sich unter den Lehrdias – nach bisherigem Kenntnisstand – etwa zwei Dutzend aus den 1950er Jahren befinden, die Ansichten von barocken Bibliothekssälen in Klöstern zeigen, war für uns Anlass, einen Blick in Lehmanns Buch zu werfen. Immerhin war er am Institut lehrend tätig. Tatsächlich finden sich direkte Entsprechungen zu den gedruckten Abbildungen.

Da diese Abbildungen damals noch nicht publiziert waren, wurden für die Dias sicherlich Reproaufnahmen von originalem Fotomaterial gemacht, das Lehmann im Rahmen seiner Forschungsarbeit erworben oder eigens hat anfertigen lassen. Allerdings wurde beim Abfotografieren für die Dias nicht allerhöchste Sorgfalt aufgewendet. So sind einige von ihnen überbelichtet, andere weisen deutliche Randunschärfe auf, was vermuten lässt, dass der aufgenommene Fotoabzug nicht plan lag. Die Originalaufnahmen müssen hingegen einwandfrei gewesen sein, wie die Abbildungen in der Buchpublikation beweisen, der sie als Vorlage gedient haben (Abb. 1).

Umgekehrt scheint es unter den Dias auch Aufnahmen zu geben, die keinen Eingang in die Publikation fanden, vielleicht weil sie aus irgend einem Grund unbefriedigend waren, wie etwa im Fall der Bibliothek von Roggenburg, die in den 1950er Jahren offenbar in ruinösem Zustand und ohne Buchbestand war. In diesem Fall wurde fast vier Jahrzehnte später eine farbige Aufnahme mit genau der gleichen Perspekive erstellt, die den Saal in restauriertem Zustand zeigt – nun aber voller moderner Konferenzstühle (Abb. 2).

Nur einzelne der betreffenden Dias besitzen eine Inventarnummer aus dem Jahr 1957, die Mehrzahl jedoch gar keine Inventarnummer, was vielleicht dafür spricht, dass sie außer der Reihe hergestellt wurden.

Diapostive und Abbildung in Buch; Bibliothekssaal in Roggenburg

Abb. 2. Diapositiv, Bibliothekssaal in Roggenburg (Bayerisch Schwaben), Aufnahme unbekannt (Werner Tschink 1957?); Abbildung Nr. 242 aus Lehmann, Bibliotheksräume, Berlin 1996, Bibliothekssaal in Roggenburg, Aufnahme von Andrea Gössel 1990/1996. Die dem Dia zugrundeliegende Aufnahme zeigt einen ruinösen Zustand der Bibliothek, der für die Buchpublikation nicht akzeptabel erschien. Digitalisat: Mediathek des IKB

Anhand des Abbildungsnachweises von Lehmanns Buch lässt sich ermitteln, dass ein Teil der Vorlagen unserer Dia-Gruppe von dem bislang kaum untersuchten Fotografen Werner Tschink stammt. Seine Abbildungen, 65 Stück, bildeten mit rund 10% zugleich die größte Gruppe des Abbildungsapparats des Buches. Da sich unter Tschinks Aufnahmen in der Publikation auch spezielle Ansichten und Detailaufnahmen befinden, wurden sie sicherlich nicht nur einfach vom Fotografen erworben, sondern eigens angefertigt.

Tschink hatte in Berlin eine Fotografenausbildung von 1952 bis 1955 bei dem bekannten Architekturfotografen Arthur Köster absolviert und war Lehmann wohl erst in dessen Berliner Zeit begegnet. Der Nachruf von Rainer Kahsnitz – damals Vorsitzender des DVKw – auf Edgar Lehmann liefert weitere Einzelheiten zu dem gesamten Projekt. Demnach konnte Lehmann noch 1957 eine Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für eine dreiwöchige Fotokampagne in Westdeutschland, Österreich und der Schweiz annehmen, die er mit Tschink durchführte. In diesem Zusammenhang sind die Aufnahmen sicherlich entstanden.

Warum das Publikationsprojekt anschließend abgebrochen wurde, ist nicht bekannt. Der Umstand, dass Tschink sich bald darauf der Archäologie zuwandte und anschließend für längere Zeit am Deutschen Archäologischen Institut in Bagdad tätig war, dürfte kaum eine ursächliche Rolle gespielt haben, da viele Aufnahmen ohnehin aus anderen Quellen stammen.

Ausschlaggebend war vielmehr wohl die verschärfte politische Ausrichtung des kultur- und Wissenschaftssektors in dieser Zeit. Diese ist wohl auch bei der Frage nach dem Zweck der Dias zu berücksichtigen: Lehmann hatte nach seinem Wechsel von Jena nach Berlin seit 1955 Lehraufträge an der Universität wahrgenommen. Es wäre naheligend, dass die Dias für eine der Lehrveranstaltungen hergestellt wurden. Der Blick ins Vorlesungsverzeichnis enttäuscht jedoch: Selbst wenn sich das Thema der Bibliotheksräume – da es als Nischenthema wohl kaum mehr zu den immer gobaler gefassten Veranstaltungstitel gepasst hätte – hinter der Ankündigung „Ausgewähltes Thema über die Kunst des Barock und Rokoko“ verborgen hätte, wäre dies im „Frühjahrssemester 1955/56“ zu früh für den Einsatz der in Rede stehenden, 1957 angefertigten Aufnahmen und Dias.

Im Herbstsemester 1958 trat Lehmann im Vorlesungsverzeichnis nicht mehr auf. Das stand zweifellos im Zusammenhang mit der kurz zuvor erfolgten unfreiwilligen Räumung des Lehrstuhls durch seinen Mentor Richard Hamann, der freilich ohnehin längst das Pensionsalter überschritten hatte. Gemeinsam mit ihm zog sich Lehmann wohl vollständig die Arbeitsstelle der Akademie zurück, die er ja drei Jahre später auch ganz übernahm. Vielleicht waren unsere Dias also für eine im Herbst 1958 geplante Lehrveranstaltung bestimmt, die dann nicht mehr stattfand.

Wie auch immer: Die beiden Gruppen von Bild-Manifestationen, die wir hier angesprochen haben – die Dias in der Lehrbildsammlung und die schließlich 1996 gedruckten Repoduktionen – sind lediglich “Spuren”. Sie sind Derivate der eigentlichen, wie wir nun wissen, 1957 getätigten Aufnahmen, beziehungsweise ihrer ersten Materialisierung, der Negative, über deren aktuellem Verbleib – wie so oft bei den Fundstücken – derzeit nur gemutmaßt werden kann.

(G.S.)

(Datensätze mit Dias mit mutmaßlichen Aufnahmen von Werner Tschink für Edgar Lehmanns Korpuswerk zu barocken Bibliothekssälen: https://rs.cms.hu-berlin.de/ikb_mediathek/pages/search.php?search=%21collection604299 )

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