Fundstück #41

#41 Negativ + Negativ = Positiv

zwei Diapositive mit Abbildungen des ersten Töne-Kapitells aus Cluny

Abb. 1. Diapositive von 1955. Cluny, Kapitell aus dem Chorumgang der ehem. Abteikirche mit der Darstellung der ersten vier Töne des Gregorianischen Kirchengesangs. Ansichten der Seiten mit viertem und erstem Ton. Aufnahme unbekannt (Foto Marburg), 1927, Digitalisat: Mediathek des IKB

Die Diapositive der 1950er Jahre tragen fast alle zwei Nummern. Die eine Nummer ist zumeist fünfstellig und ist mit blauer Tinte geschrieben, die andere besteht aus zwei Zifferngruppen, geschrieben in roter Tinte und durch einen Schrägstrich voneinander getrennt (Abb. 1.). Da die älteren Diapositive nur eine Nummer tragen (vgl. Fundstück #30), die fortlaufend weitergezählt wurde, stellte sich die Frage, welchen Grund es hierfür gab. Die beiden Zahlen irritieren dadurch, dass sie einerseits in Abhängigkeit voneinander zu stehen schienen, jedoch in der Differenz auch immer wieder variieren. Die Lösung des Rätsels war umso frappanter, als sie einen ganzen weiteren Sammlungsbestand erklären konnte.

Im Archiv der Mediathek befinden sich 57 Archivkartons mit Glas- und Planfilmnegativen verschiedener Formate. Der Bestand umfasst allein Tausende von Glasplatten, die zur Zeit gesichtet werden. Der allergrößte Teil dieser Platten weist das Format 9x12cm auf, der Rest die doppelten und vierfachen Formate 12×18 und 18 x 24. Erwartet man bei Fotonegativen in der Regel Originale (jeder Fotoabzug setzt ja ein Negativ voraus), waren erste Sondagen und die weitere Durchsicht diesbezüglich ernüchternd. Es handelt sich, insbesondere bei den Kleinformaten, offensichtlich um Reproaufnahmen, erkennbar an den mitfotografierten Rändern von Buchseiten oder Fotoabzügen. Offen war nun die Frage, wofür diese Aufnahmen bestimmt waren.
Erst nachdem wir nach und nach genauere Vorstellungen vom Produktionsprozess der Glasdias gewonnen hatten, führten schließlich Nummern, die auf Negativen aufgebracht sind, zur Schlussfolgerung, dass die Glasplatten nicht etwa für Papierabzüge oder als Druckvorlagen bestimmt waren, sondern zur Herstellung der in der Lehre benötigten Glasdias!

Die bei Stichproben festgsetellten völlig identischen Größenmaße der Abbildungen auf den Negativen und auf den Dias zeigen darüber hinaus, dass die Dias wohl direkte Kontaktkopien der Negativen sind: Die unbelichtete Dia-Glasplatte wurde zusammen mit dem Negativ in der Dunkelkammer in einen Kopierrahmen gespannt und belichtet. Fototechnisch gesehen ist auch die Dia-Glasplatte ein Negativ, jedoch mit den Dia-typischen Dimensionen von 8,5 x 10cm und einer etwas härteren Gradation der Emulsion, damit das Bild beim Kopieren nicht an Kontrast verlor. Das auf Negativmaterial umkopierte Negativ ergibt jedoch wieder ein Positiv, das dann im Hörsaal auf die Leinwand projiziert werden kann.

Negativplatte mit Reproaufnahmen von zwei Fotoabzügen, das erste Töne-Kapitell aus Cluny darstellend

Abb. 2: Repronegativ mit zwei auf Tisch platzierten Fotoabzügen (Foto Marburg, fm35727 und fm35728), Fotograf unbekannt, Reproaufnahme 1954. Ansicht der Fotoschicht; Inventarnummern auf der rückwrärtigen Glasseite aufgetragen (daher gespiegelt). Digitalisat: Mediathek des IKB

Nun war klar, dass die zweite, in roter Farbe geschriebene Zahlenkombination auf unseren 1950er Jahre-Dias die Nummer der Reproaufnahme bezeichnet, von der das Dia kopiert wurde – genauer gesagt: die Nummer der jeweiligen Bildvorlage, von der ein Dia kopiert werden sollte. Denn bei unseren beiden herausgegriffenen Dias des Tönekapitells aus der Abteikirche von Cluny wurden, um Material zu sparen, auf dem Negativ beispielsweise zwei Vorlagen mit einer einzigen Aufnahme erfasst. Sie erhielten die Nummern 3303 und 3304, die dann jeweils auch auf den einzelnen Dias vermerkt wurden – ergänzt um die Jahreszahl der Anfertigung, hier also (19)54.

Auch schon in früheren Zeiten waren – im Wechsel mit Ankäufen von Diaverlagen und anderen Bezugsquellen – Dias mittels Reproaufnahmen im Haus hergestellt worden, aber offenbar erst seit dem Jahr 1952 wurde das System für die Nummer der Negative eingeführt. Die Zahl der Negative wurde über die Jahre hinweg kontinuierlich weitergezählt und erreichte bis zum Beginn der 1960er Jahre etwa 9500. Wir gehen davon aus, dass sich diese Aufnahmen alle im Archiv der Glasnegative befinden, das jedoch aufgrund seiner ungeordneten Struktur bislang schwer zu überblicken ist.

Der Aufwand, “nur” für Repro-Fotografien Glasnegative anzufertigen, erscheint aus heutiger Sicht sehr hoch. Alternativ wäre aber nur das in dier Zeit bereits verfügbare Kleinbildformat in Frage gekommen, das jedoch Qualitätseinbußen und die Notwendigkeit einer – fehleranfälligen und erneut qualitätsmindernden – Vergrößerung mit sich bringt (vgl. Fundstück #34). Auch der Aufwand für die Aufbewahrung der Glasnegative nach der Anfertigung der Dias überrascht zunächst, allerdings konnte dieser auch von Nutzen sein: Sollte ein Dia im Lehrbetrieb zu Bruch gehen, konnte vom Negativ schnell ein neues hergestellt werden.

Erst mit der Einführung des Kleinbilddias entfielen alle dieses Schritte. Hier wird der Umkehrfilm belichtet, der dann entwickelt und gerahmt direkt als – nur ein einziges Mal vorhandenes – Dia verwendet werden kann. Damit entfallen sowohl ein weiterer Kopierprozess, als auch die Frage der Aufbewahrung der Kopiervorlage.

(G.S.)

(Datensätze der beiden Dias in der Datenbank imeji: http://imeji-mediathek.de/imeji/browse?q=fundstueck41)

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Die Diapositive und Fotos aus den Sammlungen des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte tragen verschiedenste Spuren ihrer Herstellung und Nutzung und sind damit immer auch ein Stück Institutsgeschichte, Fachgeschichte oder Medien- und Technikgeschichte.
Die hier in loser Reihe vorgestellten Fundstücke sind als solche gemeint: Immer wieder fallen einzelne Objekte auf – aufgrund ihrer Beschaffenheit, aufgrund ihre Bildinhalte, aufgrund eines sonstigen Umstands – und geben Anlass zu weiteren Beobachtungen, Überlegungen, oder kleinen Recherchen. Wenn sich dann eine erste Geschichte abzeichnet, wird sie hier gelegentlich präsentiert. Nicht als Forschungsergebnis, sondern eher als Beobachtung, Vermutung, Frage, die zu weiterer Forschung führen kann. Zusätzliches Wissen in Form von Ergänzungen, aber auch Korrekturen, ist stets willkommen (mediathek.kunstgeschichte@hu-berlin.de). Im Text geäußerte Einschätzungen geben ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.