Fundstück #43

#43 Klassensystem

Abb. 1. Kasten mit D.I.A.L./Iconclass-Bildkartei, Bildsammlungen der Mediathek (Foto G. Schelbert, CCBYSA 4.0)

Im Sammlungsbestand der Mediathek befinden sich mehrere Karteikästen mit kryptischen Aufschriften, bestehend aus Zahlen- und Buchstabenkombinatonen. Die Kästen enthalten postkartengroße Fotoabzüge mit einer Zusammenstellung von Abbildungen von Gemälden, Zeichnungen oder Druckgrafiken und einigen beschreibenden Daten (Abb. 1). Am oberen Rand der Abbildungen finden sich – wohl in das Bild einbelichtet – wieder die eingangs genannten Zahlen-Buchstaben-Kombinationen, beispielsweise 73C1 (Abb. 2). Wer sich mit der Kodierung von christlicher oder antiker Ikonographie beschäftigt hat, erkennt in den Zeichen sogenannte Iconclass-Codes und kann sie mit Hilfe eines Verzeichnisses entschlüsseln. 73C1 steht für das Bildthema „Geschichte Johannes des Täufers“.

Bei den Kästen handelt es sich nämlich um eine umfangreiche Bildkartei, die mit dem Iconclass-System erschlossen ist. Iconclass wurde in den 1940er Jahren von Henri van de Waal entwickelt, zunächst unter dem Namen D.I.A.L. (Decimal Index of the Art of the Low Countries). Die hierarchische Klassifikation ist besonders gut mit dem Computer zu verarbeiten und gewinnt daher seit den 1990er Jahren kontinuierlich an Bedeutung in kunsthistorischen Datenbanken. Sie dient zur inhaltlichen Erschließung von Kunstwerken und zum Abgleich zusammengehöriger Daten. Seit Mitte der 2000er Jahre ist die Datenbank online unter https://iconclass.org offen konsultierbar.

Die Systematik wurde lange vor dem Aufkommen des Computer entwickelt und fand in erster Linie auf Karteikarten Verwendung. Die Karten konnten mit Hilfe der Codes alphanumerisch sortiert und damit nach Bildthemen angeordnet werden. Vorbilder des Kodierungsverfahrens waren Dezimalklassifikationen der Wissensgebiete aus dem bibliothekarischen Bereich, wie die erstmals 1876 publizierte Dewey Decimal Classification.

Einer bestimmten Zahl von Hauptabteilungen (bei Iconclass inzwischen zehn) sind hierarchisch gestaffelte Ebenen mit Unterbegriffen zugeordnet. Die Geschichte Johannes des Täufers ist damit ein Teil der biblischen Ereignisse (7) bzw. des Neuen Testaments (73), oder – noch genauer – der Ereignisse aus der Zeit des öffentlichen Lebens Christi von der Taufe bis zur Passion (73C). Für die einzelnen Episoden der Geschichte Johannes des Täufers können weitere Ziffern an den Code 17C1 angehängt werden.

Durch Kombination von mehreren Iconclass-Notationen lassen sich nahezu beliebige Sachverhalte ausdrücken. Die allgemeine Notation 49N= „Lesen“ ist in unserem zweiten Beispiel mit der Notation 46E22.1= „Soziales Leben, Kommunikation/Kommunikationsmittel/Post/Brief“ verbunden – hier noch mit einem Pfeil versehen, der angibt, unter welcher der beiden Notationen die Karte einsortiert werden soll (Abb. 3). Beide Notationen gehören in diesem Fall der Oberklasse 4 „Gesellschaft, Zivilisation, Kultur“ an.

Derartige Ordnungssysteme sind verständlicherweise hochgradig normativ und oft inhaltlich stark vereinfachend. Gerade die Iconclass-Nomenklatur stand in letzter Zeit in der Kritik, weil sie in manchen Bereichen (z. B. Kolonialkunst) heutigen Anforderungen an eine begriffliche Neutralität nicht mehr zu genügen scheint. Zu berücksichtigen ist aber, dass Iconclass nicht in erster Linie begrifflich einordnende Aussagen über die Gegenstände machen will, sondern vor allem der leichteren Auffindbarkeit von Bildern anhand ihres Inhalts dient. Im Vordergrund stand zunächst die Formalisierung christlicher und profaner Bildinhalte, wie sie sich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit de facto entwickelt haben.

Zurück zu unserer Kartei. Abgesehen von den Kästen und den handgeschriebenen Trennkarten, mit denen die Notationsgruppen abgeteilt sind, wurde die Kartei keineswegs im Institut oder von einer Privatperson angefertigt, sondern wurde – immer noch unter der Bezeichnung D.I.A.L. – vom Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie (RKD) zwischen 1950 und ca. 1970 in jährlichen Lieferungen angeboten. Eine solche Lieferung umfasste 500 Abbildungen niederländischer Kunst mit Metadaten und Iconclass-Code, hergestellt als Abzüge auf Fotopapier. Der Gesamtumfang des Werks betrug demnach etwa 10.000 Kunstwerke auf Karten.

Wie bei vielen anderen Sammlungsbeständen der Mediathek fehlt auch hier die Dokumentation der Erwerbungsumstände, so dass wir nicht wissen, seit wann sich die D.I.A.L.-Kartei in Institutsbesitz befindet. Der Stempel „Humboldt Universität zu Berlin. Kunstgeschichtliches Institut“ deutet jedoch darauf hin, dass die Karten wohl tatsächlich im genannten Publikationszeitraum angeschafft wurden, denn nach 1968 wurde die Kunstgeschichte in „Kunstwissenschaftliches Institut“ umbenannt. Es wäre noch zu ermitteln, inwieweit das Set vollständig ist.

Mit einem Preis von 150 Gulden pro jährlicher Lieferung, der 1969 auf 200 Gulden erhöht wurde (Quelle: Rechnungsdokument des RKD für eine andere Institution, frdl. Mitt. H. Brandhorst) war die Anschaffung nicht billig. Aber der klassifizierende, geradezu bürokratische Zugang zur Kunst – hier außerdem vorwiegend an der weltzugewandten niederländischen Kunst exemplifiziert – stand der marxistisch-leninistischen Ideologie der DDR-Kunstgeschichte offenbar nahe genug um diese Investition zu rechtfertigen, auch wenn kaum vorhandene Gebrauchsspuren nicht auf eine tatsächlich häufige Verwendung hindeuten. Damit gehörte die Humboldt-Universität einem eher exklusiven Kreis von weltweit 110 Abonnenten an (diese Zahl wird in einem Katalog für das Jahr 1968 angegeben). Welche anderen kunsthistorischen Institute im deutschsprachigen Raum die Kartei ebenfalls bezogen, ist uns nicht bekannt.

(G.S.)

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