Fundstück #45

#45 Ein byzantinischer Riese wird zum Leben erweckt

Abb. 1. Glasdia, Ruine der östlichen Hälfte des Bukoleon-Palasts in Konstantinopel (seit 1930 Istanbul), Aufnahme von Guillaume Berggren um 1880 (Digitalisat: Mediathek des IKB)

Beim Stöbern im Byzanz-Teil des Schranks 16 finden wir ca. 300 digitalisierte Dias von historischen Fotografien nicht mehr bestehender oder inzwischen restaurierter Klassiker, zumeist der Architektur. Darunter ein Dia mit der Beschriftung, „Konstantinopel Palastfront in der Seemauer“ aus dem 5./6. Jahrhundert (Abb. 1). Diese Aufnahme fällt ins Auge, denn sie zeigt die Teilruine eines heute als Bukoleon-Palast bekannten antik-mittelalterlichen Baukomplexes, die inzwischen weitgehend in die moderne Stadt integriert ist. Die Charakteristika der Aufnahme erlauben eine Datierung der Bildvorlage auf das späte 19. Jahrhundert. Die hängende Wäsche lässt die Nutzung als Wohnstätte vermuten, dicht hinter der Fassade befinden sich zeitgenössische Bauten, von denen wir die Schornsteine sehen.

Bestellt wurde das Dia vom Berliner Byzantinisten Oskar Wulff (1864-1946), der von 1902 bis 1936 als Privatdozent und außerordentlicher Professor an der Friedrich-Wilhelm-Universität lehrte, wahrscheinlich für seine Lehrveranstaltung zur „Spätbyzantinischen Kunst“ im Wintersemester 1930/31. Darauf deutet das wohl vom Institutsfotografen angebrachte Kürzel „wf“ auf dem Dia hin, ebenso die Beschriftung in Wulffs eigener Hand. Die Inventarnummer 42512 lässt auf eine Aufnahme in die Dia-Sammlung des kunsthistorischen Instituts ca.1929/30 schließen. Der Zusatz zur Objektbezeichnung „Hornitsdas“ (eigentlich Hormisdas) war die bis dahin gebräuchliche Bezeichnung des abgebildeten Baus, den man als Palastteil des Hormisdas-Klosters ansah.

Abb. 2. Ruine der östlichen Hälfte des Bukoleon-Palasts in Konstantinopel (seit 1930 Istanbul), Aufnahme von Guillaume Berggren um 1880 (aus: David Hendrix, Palace of Boukoleon 2016 (thebyzantinelegacy.com, Stand 5.6.2023)

Die Bildvorlage ist eine um 1880 aufgenommene Dokumentationsfotografie des schwedischen Fotografen Guillaume Berggren (1835-1920), der seit 1870 ein Fotostudio vor Ort betrieb und die Gebäude Konstantinopels systematisch erfasste (Abb. 2; das IKB besitzt andere Aufnahmen Berggrens mit Straßenszenen in Istanbul). Entsprechend wurde die Fotografie beschriftet mit seinem Namen (unten rechts) sowie der Bestellnummer 164 und dem Titel „Maison de Justinien“ (unten links). Auf dem Dia sind diese Angaben abgeschnitten. Der starke Unterschied bei den Kontrasten entstand wohl beim mehrfachen Reproduzieren des Dias. Die Objektbezeichnung identifiziert den abgebildeten Bau als die Wohnstätte von Kaiser Justinian (527-565 n.Chr.) vor seinem Regierungsantritt, auch bekannt als Hormisdas-Palast.

Berggrens Aufnahme zeugt vom zunehmenden öffentlichen und wissenschaftlichen Interesse an der Erforschung des ehemaligen Byzantinischen Reichs als vollwertiger Teil des europäischen antiken und mittelalterlichen Erbes im späten 19. Jahrhundert. Sie gehört zu einer kleinen Serie, die die Überreste des ehemaligen kaiserlichen Hafens vor der Errichtung der Orientbahn festhielt, die ab 1883 zwischen Konstantinopel und Wien dicht an der abgebildeten (nach aktuellem Kenntnisstand) Osthälfte des Hafenpalastes vorbei, in die Westhälfte hinein und durch die westliche Wehrmauer in die Stadt fuhr. Würdevoll und trotzig steht die Fassade der Osthälfte da, bereits ohne Prachtbalkon, aber weiterhin mit dem Leuchtturm (hinten aus der Fassade hervortretend). Der Bau wirkt einerseits gefährdet durch die Nutzung als Wohnstätte, andererseits wirkt er trotz Verfall mächtig genug, um die Zeitgenossen zu beherbergen, und animiert den Betrachter zur Rekonstruktion des ehemaligen Repräsentativbaus am kaiserlichen Hafen, der zeitweilig als Kaiserresidenz genutzt wurde.

Aber warum zeigte Oskar Wulff diese Aufnahme 50 Jahre später im Wintersemester 1930/31 in seiner Lehrveranstaltung zur „Spätbyzantinischen Kunst“? Sie wurde wahrscheinlich verwendet bei der Besprechung der kürzlich, zwischen 1918 und 1928, erfolgten archäologischen Rekonstruktion des ehemaligen byzantinischen Palastbezirks Konstantinopels, zu denen der Hafenpalast gehörte. Damals nutzte der Berliner Archäologe Theodor Wiegand (1864-1936), seit 1899 Koordinator der deutschen Ausgrabungsprojekte im Orient, mit seinem Team die einmalige Chance eines ungehinderten Zugangs zu den Teilruinen und den Palastsubstruktionen infolge des großflächigen Brands im Hafenviertel 1912. Dabei lokalisierten sie den Hormisdas-Palast weiter westlich der hier abgebildeten Ruine, die sich als Osthälfte der Prachtanlage des kaiserlichen Hafens am Marmarameer herausstellte, die erst während seiner Erweiterung zur kaiserlichen Residenz im 9./10. Jahrhundert entstanden war. Damals erhielt der Hafen die Statue des Stiers, der mit dem Löwen kämpft (Griechisch: bous kai leon, βοῦς καὶ λεῶν), und der Palast den Namen „Bukoleon“. Bis dahin bestand der Hafenpalast aus der Westhälfte um die kaiserliche Landungsstelle, die tatsächlich im 5./6. Jahrhundert errichtet wurde. Der gesamte Bukoleon-Palast wurde 1204 durch die lateinischen Kreuzfahrer zerstört, anschließend vernachlässigt und in der spätbyzantinischen Zeit, die mit der Rückeroberung Konstantinopels 1261 einsetzte, wiederaufgebaut.

Die Ergebnisse der archäologischen Arbeiten samt fotografischer Dokumentation veröffentlichte Wiegand erst 1934, als er bereits Direktor des Archäologischen Instituts des Deutschen Reichs – Abteilung Istanbul – geworden war, in einer Monographie mit dem Titel „Die Kaiserpaläste von Konstantinopel zwischen Hippodrom und dem Marmara-Meer“. Dort wird Berggrens Aufnahme abgebildet (als Tafel XXIX) und in der Bildunterschrift unser Bau endlich korrekt „Östlicher Seepalast“ genannt. Die westliche Hälfte des Palastes, war von der Orientbahn nahezu beseitigt worden. Die Osthälfte litt seitdem dauerhaft unter der Bahnerschütterung und der Nähe der Bahnverwaltungsgebäude. Hinzu kamen Brandschäden und Witterung wie auch die Folgen der archäologischen Arbeiten selbst. Eine in Wiegands Monographie enthaltene Aufnahme von 1931 zeigt die Substanz nicht zuletzt auch durch die archäologischen Arbeiten weiter ausgehöhlt (Abb. 3). Denn das Team um Theodor Wiegand war dabei, alles Osmanische z.B. die Zinnen und die Vermauerung an den Fenstern zu entfernen, um die byzantinische Substanz freizulegen.

Abb. 3. Ruine der östlichen Hälfte des Bukoleon-Palasts in Istanbul (bis 1930 Konstantinopel), Aufnahme von 1931, Fotograf: Diether(?) Thimme (aus: Wiegand: Die Kaiserpaläste von Konstantinopel zwischen Hippodrom und Marmara- Meer. Berlin 1934)

Welches Material aus Wiegands Kampagnen Wulff für seine Lehrveranstaltung 1930/31 zugänglich war, wissen wir nicht. Er könnte jedenfalls die 1928 fertiggestellten Lagepläne und Aufrisse der Bauten von Ernst Mamboury (1878-1953) gezeigt haben. Der damals geplante Wiederaufbau der Kaiserpaläste wurde dann leider nie realisiert. Die historische Aufnahme von 1880 wählte Wulff wohl, um einen Eindruck der alten Größe des Bukoleon-Palasts zu vermitteln, den man bis zu den kürzlichen Rekonstruktionsarbeiten mit Ausnahme einzelner Bruchstücken der Westhälfte verloren glaubte.

(E.P.)

Literatur:

Dominik Heher, Der Palasthafen des Bukoleon, in: Falko Daim (Hg.), Die Byzantinischen Häfen Konstantinopels. Mainz 2016 S.67-88.
Margarethe König (Hg.), Palatia, Kaiserpaläste in Konstantinopel, Ravenna und Trier. Trier 2003.
Theodor Wiegand, Die Kaiserpaläste von Konstantinopel zwischen Hippodrom und Marmara- Meer. Berlin 1934.

(Datensatz des Dias: https://rs.cms.hu-berlin.de/ikb_mediathek/pages/view.php?ref=56789 )

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