#49 Der falsche Grünewald
Unter den Negativbeständen des IKB, die zum großen Teil als Vorlagen für die Glasdiapositive angefertigt wurden (s. Fundstück #41), befindet sich auch ein Schächtelchen, das mit „Grünewald“ beschriftet ist. Die Aufmerksamkeit, die der Name des bekannten, geheimnisumwitterten Malers des frühen 16. Jahrhunderts erregt, steigt noch dadurch, dass die in der Schachtel enthaltenen Negative augenscheinlich Originalvorlagen wiedergeben – Zeichnungen auf Papier, die direkt abfotografiert wurden.
Im Grünewald-Fach der Glasdiasammlung fanden sich fünf unter Verwendung dieser Negative, der Inventarnummer zufolge im Jahr 1951 angefertigte Dias. Sie liefern zusätzliche Information. Aber anstatt weiterer Angaben – etwa zu Titel, Datierung, Sammlung – ist der Name Grünewald mit einem Fragezeichen versehen und die Dias tragen den Hinweis: „Fund in Gisselberg bei Marburg. Dezember 49“.
Gegenstand der Dias ist also offenbar ein überraschender Fund, über dessen Umstände ein Artikel von Frieda Dettweiler in der Kunstchronik vom März 1950 aufklärt: „Am 6. Dezember vergangenen Jahres [1949] fand auf seinem Arbeitsweg von Wenkbach nach Marburg der Kunstmaler O. Brinckmann, Hauszeichner der Marburger Presse, in einer Abfallgrube am Rande der Landstraße kurz vor dem Dorfe Gisselberg die genannten Zeichnungen. Sie lagen, vom Regen der vergangenen Tage durchfeuchtet, unter alten Dosen und Lumpen…“ (Dettweiler 1950). Insgesamt handelte es sich um sechs Blätter.
Wirft man jedoch einen genaueren Blick auf die – im Dia besser als im Negativ erkennbaren – Darstellungen , dann fällt die Aufregung schnell in sich zusammen. Bereits das hier ausgewählte, unfarbige, abfotografierte und umkopierte Glasdia erweist, dass es sich kaum um eine Zeichnung des 16. Jahrhunderts, geschweige denn um ein Werk Grünewalds handeln kann. Die formlosen, vorgegebenen Konturen folgenden Striche sowie die unzusammenhängende Schattengebung machen es unwahrscheinlich, dass es sich um einen Entwurf handelt. Alle Merkmale weisen bestenfalls auf eine Nachzeichnung hin.
Bereits die Einschätzung Dettweilers im besagten Artikel fiel kritisch aus. Sie vermutete klug argumentierend sogar das Abzeichnen nach Schwarzweißreproduktionen: „Die Art der Schattierung des Gesichtes, besonders des Mundes, entspricht den Schatten, wie sie eine Schwarzweiß-Reproduktion zeigt. Fuß und wehender Mantelzipfel des linken Engels sind vollkommen dem Verkündigungsengel [des Isenheimer Altars] entnommen, während Kopf und Oberkörper dem Gambenengel gleichen (wie auch andere feststellen), und der breite Flügel am rechten Arm durch Hinzufügung des Gefieders des Cherubims dahinter entstanden ist, ein Mißverständnis, das auch nur auf die Schwarzweiß-Vorlage zurückgeführt werden kann.“ (Dettweiler 1950, S. 236). Barbara Welzel hat dem gesamten Vorgang in den 1990er Jahren einen Aufsatz gewidmet, der besonders die Zeitbedingtheit kennerschaftlicher Urteile herausstreicht. Die inzwischen verschollenen Originale konnte sie jedoch nicht mehr sehen (Welzel 1995/96). Obwohl der Fall damals die Grünewald-Kennerschaft in der Weise spaltete, dass es auch ernsthafte Befürworter einer Zuschreibung gab – darunter der damalige Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts Friedrich Winkler –, bemerkt auch Welzel rundheraus, das niemand heute eine Autorschaft Gründewalds für diese Blätter “auch nur in Erwägung ziehen würde” (Welzel 1995/96, S. 214).
Aus heutiger Perspektive ist bemerkenswert, dass die Diskussion um die Zuschreibung der Zeichnungen wochenlang in der Tagespresse geführt wurde (vgl. Dettweiler 1950, S. 233-234), während diese Frage – wenn es nicht gerade um Leonardo oder Van Gogh geht – heute kaum auf breiteres Interesse stoßen dürfte. Es bleibt offen, ob die Zeichnungen, deren unregelmäßig beschnittenes Papier den Eindruck historischer Entstehung hervorruft, tatsächlich in Täuschungsabsicht entstanden sind oder nur Stilübungen darstellen. Am Ende der Diskussion stand der definitive Ausschluss der Zeichnungen aus dem Oeuvre Grünewalds. Im Werkverzeichnis der Zeichnungen von Roth ist ihnen nurmehr eine Fußnote in der Einleitung gewidmet (Roth 2008, S21 n. 8).
Was sie Berliner Lehrbildsammlung betrifft, so stellt sich die Frage, ob und wann die Dias im Unterricht eingesetzt wurden. Die Vorlesungsverzeichnisse zeigen keine passenden Veranstaltungen. Richard Hamann, damals kommissarischer Lehrstuhlinhaber in Berlin, aber zugleich immer noch eng mit seinem alten Institut in Marburg verbunden, hat am 7. März 1950 im „Deutschland-Sender“, der zentralen, später in “Stimme der DDR“ umbenannten Rundfunkstation über den Fall gesprochen (Dettweiler 1950, S. 233). Wir kennen den Wortlaut seines Beitrags nicht; Dettweiler ordnete ihn unter diejenigen ein, die die Werke für „spätere Arbeiten in Anlehnung an Grünewaldsche Originale“ hielten, was sie jedenfalls weit von Grünewald und seiner Zeit abrückte. Nebenbei bemerkt, lehnte auch Hamanns Sohn, Richard Hamann-Mac Lean, damals Privatdozent in Marburg, nach den Titeln von Zeitungsbeiträgen in der Frankfurter Rundschau und in der Neuen Zeitung zu urteilen, die Zuschreibung strikt ab.
Sicherlich ist Richard Hamann über das Marburger Institut an die Aufnahmen gelangt, wenn er sie – immer noch für die dortige Fotoabteilung zuständig – nicht sogar veranlasste. Er benötigte sie aber wohl kaum für Lehrveranstaltungen, sondern wahrscheinlich, um seine Meinung zu diesem um 1951 immer noch diskutierten Forschungsproblem anhand von Lichtbildern vorzutragen.
(G.S.)
Literatur
Dettweiler, Frieda: “Drei bei Marburg gefundene ‘Grünewaldzeichnungen'”, in: Kunstchronik 3.1950, S. 232-236.
Welzel, Barbara: Vom “inneren Bild des Kenners” – der Marburger “Grünewald”-Fund von 1949, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/96), S. 212 – 226.
Roth, Michael: Grünewald, Matthias. Die Zeichnungen (Festgabe zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 1908 – 2008), Ostfildern 2008.
(Datensätze der Dias mit den Marburger “Grünewaldfunden”: https://rs.cms.hu-berlin.de/ikb_mediathek/pages/search.php?search=%21collection606491)
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