Fundstück #37

#37 Zeitgeist

Diapostiv, Ansicht des Karl-Marx-Hofs in Wien

Dia, nach 1930, mit Ansicht des Karl-Marx-Hofs in Wien, Fotograf:in unbekannt, Digitalisat Mediathek des IKB

Ein flüchtiger Blick auf dieses – zur Abwechslung wieder eher knapp beschriebene – Fundstück verleitet dazu anzunehmen, dass es sich um ein typisches Dia der frühen DDR-Zeit handeln könnte: Nicht nur das Motiv scheint das nahezulegen – der Karl-Marx-Hof in Wien als Monument der Arbeiterbewegung! –, sondern auch der Institutsstempel „Kunstgesch. Institut Berlin“, der, nach allem was bisher bekannt ist, erst seit der Wiedereröffnung der Humboldt-Universität 1946 verwendet wurde.

Allerdings machen Teile der Beschriftung sofort deutlich, dass nicht alle sichtbaren Elemente als chronologische Indizien wörtlich genommen werden dürfen: „Alter Bestand“ weist darauf hin, dass das Dia zum Zeitpunkt seiner letzten Beschriftung und Bestempelung irgendwie „alt“ war und eigentlich aus einem anderen „Bestand“ überkommen ist. Sieht man genauer hin, sind auch Sprünge im Glas feststellbar. Offenbar war das Dia so beschädigt, dass es nicht mehr weiterverwendet werden konnte und mit neuen schwarzen Papierstreifen und vielleicht auch mit einem neuen Deckglas versehen werden musste, was dann auch eine neue Beschriftung notwendig machte. Diese fiel – vielleicht in direkter Übernahme der älteren Beschriftung – reichlich knapp aus, während neu beschriftete Dias dieser Zeit ausführlicher, z.B. mit Angabe von Architektennamen und Datierungen versehen sind. Hier hingegen ist nur „Wien XIX“ (für 19. Bezirk) als Ort und „Karl-Marx-Hof“ als Name des Bauwerks vermerkt.

Nicht übernommen von der ursprünglichen Fassung des Dias wurde allerdings die Inventarnummer. Anders als in der Vorkriegszeit, wo diese bei Beschädigung oder Verlust oft sorgfältig erneuert wurde (vgl. Fundstück #32), spielten die alten Nummern in der Nachkriegszeit, in der wieder eine neue Zählreihe begonnen wurde, offenbar keine Rolle mehr. Da die Inventarnummer eines der aussagekräftigsten Merkmale für die zeitliche Bestimmung unserer Dias ist, fällt es nun schwer nachzuvollziehen, wann dieses angefertigt wurde. Damit fehlt auch ein wichtiger Anhaltspunkt welche Lehrveranstaltung dafür den Anlass gab. Aufgrund des Motivs, der riesenhaften Wohnanlage im nördlichen Wiener Ortsteil Döbling, die von 1927 bis 1933 von der sozialdemokratischen Stadtregierung und dem damaligen Stadbaumeister Karl Ehn errichtet wurde, kann man schließen, dass die zugrundeliegende Fotografie nicht vor 1930 entstand. Denn in jenem Jahr war unter anderem der zugleich mit Brücken, Tor- und Turmmotiven expressiiv komponierte Mitteltrakt der gesamten, mehr als einen Kilometer langen Anlage fertiggestellt. Die Bäumchen auf dem riesigen begrünten Platz wurden gerade erst gepflanzt.

(G.S.)

(Datensatz: https://rs.cms.hu-berlin.de/ikb_mediathek/pages/view.php?ref=64617)

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