Fundstück #39

#39 Vorhangbogen und andere Verdeckungen

Diapositiv, Ansicht der Szcytna-Straße in Thorn (Toruń)

Diapositiv, Ansicht der Szcytna-Straße in Thorn (Toruń). Fotografie: Franz Stoedtner, Digitalisat: Mediathek des IKB

Heute ein Fundstück im Fundstück: Die Aufnahme des Dias entstand in Toruń, deutsch Thorn, an der Weichsel. Das Dia trägt zwar nicht die zusätzliche Etikettierung „Originalaufnahme …. 1908“, ist aber aufgrund von Bildgegenstand und Bestellnummer eindeutig Stoedtners Reise nach Westpreußen von 1908 zuzuordnen (vgl. Fundstück #38).

Die – wie praktisch alle Orte der Region – ursprünglich slawische Ansiedlung Toruń wurde in den 1230er Jahren an leicht verändertem Standort vom Deutschen Orden neu gegründet und ist vorwiegend von spätmittelalterlichen Backsteinbauten geprägt. Franz Stoedtner fotografierte neben den beiden großen Kirchen und dem Rathaus auch einige Bürgerhäuser der Stadt. Es wäre interessant zu wissen, auf welcher Grundlage Stoedtner seine Auswahl traf. Orientierte er sich an älteren Denkmal-Inventaren und anderer Literatur? Hatte er bereits zuvor ausgearbeitete Listen, holte er vor Ort Information ein, oder ließ er sich spontan von seinem Kunsturteil leiten?

Letzteres könnte hier der Fall gewesen sein. Das mit „gothisches Haus mit Fialenpfeiler und Vorhangbogen, 14. Jh.“ beschriftete Dia zeigt die Aufnahme eines Wohnhauses mit einer hohen, mit sogenannten Vorhangbogen abgeschlossenen Blendgliederung. Die meisten Häuser in der ulica Szcytna, der Schildergasse (damals in Schillerstr. umbenannt) haben durchaus mittelalterliche Dimensionen und Proportionen, auch wenn die Fassaden überwiegend neuzeitlich überformt sind und viele Giebel fehlen. Dieser – heute noch existierende – modern unterkellerte Bau mit symmetrisch aufgeteilter siebenachsiger Fassade und vier Vollgeschossen ist hingegegen mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht mittelalterlich. Vielmehr ist – so unsere hier vertretene Einschätzung – dieses Haus wohl nicht im 14., sondern eher um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden und als neogotisch anzusehen.

Jedoch handelt es sich nicht etwa um eine zufällige Fehlbezeichnung, da es bemerkenswerterweise noch ein zweites Exemplar dieses Dias in der Sammlung des Instituts gibt, das eine gleichlautende Beschriftung aufweist. Auch das heute bei Foto Marburg aufbewahrte Negativ von Stoedtner ist so gekennzeichnet. Ist Stoedtner hier beim Heben übersehener Schätze über das Ziel hinausgeschossen? Oder hat er sich gar seinen Kunden gegenüber einen Scherz erlaubt? Wir wissen es nicht. Dass Stoedtner diesen Bau ästhetisch interessant fand, ist nicht überraschend, wirkt er doch wie ein Vorläufer der damals in Berlin gerade aktuellen Bauten Alfred Messels, die sich ja ebenfalls auf gotische Architektur bezogen.

Fraglich ist auch, zu welchem Zweck das Bild in die Sammlung des Instituts aufgenommen wurde. Die Inventarnummer 23967 verrät, dass das um 1915 stattfand, wie auch das zeitspezifische Firmenetikett bestätigt. Offensichtlich wurde die Bezeichnung des Gegenstands akzeptiert, da in vielen anderen Fällen bei angenommenen Fehlern korrigiert oder gar neu beschriftet wurde. Noch überraschender ist, dass gerade von diesem eher unspektakulären Wohngebäude ein zweites Dia vorhanden ist.

Diapostiv, Ansicht der Szcytna-Straße in Toruń

Diapositiv, Ansicht der Szcytna-Straße in Toruń. Fotografie: Franz Stoedtner, Digitalisat: Mediathek des IKB

Allerdings ist diese weitere Exemplar – obwohl in etwa der gleichen Zeit angefertigt und mit dem gleichen Firmenetikett versehen – nicht völlig identisch: Es zeigt einen größeren Ausschnitt der Straßenfront. Beide Dias wurden sicherlich vom gleichen Negativ kopiert, das also den größeren Bildausschnitt enthalten muss. Beim ersten Dia sind die Nebenbauten lediglich abgedeckt, um das Hauptmotiv stärker zu isolieren, beim zweiten sind sie sichtbar.

Was aber ist an den Seiten zu sehen? Während im Hintergrund ein dreiachsiges Geschäfts- und Wohnhaus identifiziert werden kann, sind im Vordergrund zwei Achsen eines Backsteinbaus mit großen, leicht hufeisenförmigen Tür- und Fensteröffenungen zu erkennen.

Ganz offensichtlich handelt es sich um eine Synagoge aus der Mitte oder zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich im heutigen Stadtbild nicht mehr findet. Tatsächlich stand hier die Hauptsynagoge, die 1885 als siebenachsiger Bau mit einem zwiebelbekrönten Turm errichtet wurde. Gleich im ersten Winter der deutschen Besatzung, 1939-40, wurde sie zerstört und abgebrochen. An ihrer Stelle befindet sich heute ein Wohn- und Geschäftshaus mit einer Gedenktafel. Warum nun die Synagoge bei diesem Exemplar des Dias, dessen Beschriftung ebenso ausschließlich auf das Haus in der Mitte verweist, sichtbar gelassen wurde, ist eine offene Frage. Unklar ist nicht zuletzt, wann und durch wen dieses Exemplar des Dias in die Lehrbildsammlung gelangte, da es keine Inventarnummer trägt.

(G.S.)

(Datensätze der beiden Dias: https://rs.cms.hu-berlin.de/ikb_mediathek/pages/search.php?search=%21collection604261 )

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