Kunsthistoriographien im gesellschaftspolitischen Umbruch:
Kunstgeschichte in Böhmen und Mähren 1930-1950
Dr. Alena Janatková
Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Forschungsprojekt befasst sich mit der deutschsprachigen und der tschechischsprachigen Kunstgeschichte in Böhmen und Mähren unter verschiedenen gesellschaftspolitischen Bedingungen. Untersucht wird die Entwicklung und Reichweite der fachwissenschaftlichen Positionierungen, deren Klassifikationssysteme sowie Modifikationen und Anpassungs- oder Abgrenzungsmechanismen ethnischer wie kulturspezifischer Art. Kunstgeschichte und Denkmalpflege treten somit als Bestandteil zeitgenössischer Kultur und kultureller Sinnproduktion ins Blickfeld.
In seiner historischen und politischen Dimension behandelt das Projekt zudem die Geschichte der Kunstgeschichte im Nationalsozialismus: Die Kernzeit ist das “Protektorat Böhmen und Mähren”, während dessen kunsthistorische Forschung und Praxis von dem Amt des Reichsprotektors aus gelenkt wurden.
Das Projekt „Kunsthistoriographien im gesellschaftspolitischen Umbruch: Kunstgeschichte in Böhmen und Mähren 1930 bis 1950“ wurde insgesamt 27 Monate (15.12.2006 – 14.03.2009) von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.
Ausgangsfragen und Zielsetzung des Projekts
Das Kunsthistoriographienprojekt befasst sich mit der Rolle der Fachdisziplin Kunstgeschichte in den ethnisch und kulturell heterogenen böhmischen Ländern. Die wissenschafts- und gesellschaftspolitische Untersuchungsperspektive richtet sich auf die tschechischsprachige und die deutschsprachige Kunstgeschichte in Böhmen und Mähren während der Zeitspanne zwischen 1930 und 1950. Die sprachliche Zweigleisigkeit des Fachgebiets Kunstgeschichte war gleichfalls durch unterschiedliche institutionelle Standorte markiert. Sie ist charakteristisch für wissenschaftshistorische Differenzen, die insbesondere die nationale Identität von Kunst und Kultur betreffen. Diese Kunsthistoriographien werden im Zusammenhang mit staatspolitischen Neuorientierungen und gesellschafts- beziehungsweise kulturpolitischen Umbruchsituationen betrachtet. Welche Rahmenbedingungen waren durch die staatliche Organisation der Kunstgeschichte vorgegeben, wie wirkten sie sich auf die staatlich geförderten Einrichtungen aus, wie gestaltete sich die kunsthistorische Praxis der Museen sowie der Denkmalpflege, was bedeuteten diese Rahmenbedingungen für die universitäre Forschung und Lehre?
Die Kunstgeschichte in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit ist Ausgangspunkt für Fragen nach der Formierung der Fachdisziplin zur Zeit der Zweiten Republik, des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren, und der Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Forschungsinteresse betrifft die Entwicklung und Reichweite der deutschsprachigen und der tschechischsprachigen fachwissenschaftlichen Positionierungen, deren Klassifikationssysteme sowie Modifikationen und Anpassungs- oder Abgrenzungsmechanismen ethnischer wie kulturspezifischer Art. Erforscht werden inhaltliche und methodische Ansätze der Kunsthistoriographien einschließlich der Umwertungen einzelner Kunstbereiche und Epochen, deren institutionelle Verankerung und populäwissenschaftliche Aufbereitung sowie weitere Rezeption. Dabei geht es keineswegs um eine anonyme Kunstgeschichte, sondern um die Wissenschaftspolitiken und öffentliche Wissenschaftsstrategien von handelnden Personen in komplexen Situationen (Jutta Held). Kunstgeschichte und Denkmalpflege treten somit als Bestandteile zeitgenössischer Kultur und kultureller Sinnproduktion in Erscheinung.
Zusammenfassung der Ergebnisse
Die „Kunsthistoriographien im gesellschaftspolitischen Umbruch: Kunstgeschichte in Böhmen und Mähren 1930 bis 1950“ verstehen sich als Beitrag zur Geschichte der Kunstgeschichte in Ostmitteleuropa, zur Intellektuellenforschung und der Biographiengeschichte sowie zur Kunstgeschichte im Nationalsozialismus. Auf der Grundlage von publizierten und unpublizierten Quellen wird neues Material zu der tschechischsprachigen und der deutschsprachigen Kunstgeschichte in Böhmen und Mähren in vergleichender Absicht ausgewertet.
Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf den Zusammenhang der kunsthistorischen Wissenschaft einerseits mit der kunsthistorischen Praxis andererseits. Wissenschaftliche Positionierungen der „čechoslovakischen“ Kunstgeschichte und der „sudetendeutschen“ Kunstgeschichte nahmen ebenso in den Buchpublikationen wie auf Ausstellungen eine exponierte Stellung ein. Das wissenschaftliche Wertesystem hat über die öffentliche Präsentation von Kunst entschieden. Die kunsthistorische Kulturbodenforschung wurde in Konzeptionen für eine Neuordnung der Museen umgesetzt. Die Übertragung einer leitenden Funktion an den staatlich verwalteten Kultureinrichtungen war umgekehrt mit möglichen Optionen für entsprechende Forschungsaufträge belastet. Die kulturpolitische Bedeutung der theoretischen und der praktischen Kunstgeschichte wurde zur Protektoratszeit aber nicht zuletzt an ihrem neuen Sitz, dem Rudolfinum, manifest, das wiederum Forschung, Lehre und Exposition als einen Interessenkomplex zusammenfasste. Hier trat die Kunstgeschichte auch als Repräsentantin der damals aktuellen staatspolitischen Ambitionen auf.