Nachruf

Sehen heißt erkennen.

Zum Tod des großen Kunstwissenschaftlers und Essayisten Rudolf Arnheim

Prof. Dr. Rudolf Arnheim

Rudolf Arnheim (1904 – 2007)

Als kürzlich auf dem Berliner Auktionsmarkt zwei Fotoalben aus dem engsten Familienkreis Rudolf Arnheims auftauchten, konnte man dies als Vorboten der Historisierung des bedeutenden Kunstwissenschaftlers, der am 9. Juni d.J. im Alter von fast 103 Jahren verstorben ist, verstehen. Zugleich berührte es merkwürdig, daß diese Bildzeugnisse einer Vita, die 1904 in Berlin ihren Ausgang genommen hatte, an eben jenem Ort wieder auftauchten, den der junge Schriftsteller und Gelehrte im August 1933 auf dem Weg in die Emigration für immer verlassen hatte. Über Rom und London hatte ihn die Flucht aus Nazideutschland schließlich 1940 in die Vereinigten Staaten geführt, wo der promovierte Psychologe und Kunsthistoriker bald an der New York School for Social Research in New York, an der Harvard University in Cambrdige und schließlich an der University of Michigan in Ann Arbor Kunstpsychologie lehren sollte. All diese Stationen sind in den beiden Alben anhand überwiegend privater Aufnahmen dokumentiert. Sie zeigen einen bis ins hohe Alter jugendlich wirkenden Gelehrten, der zu der aktuellen, von ihm bereits weit vor der Zeit angestoßenen Bild- und Mediendebatte bis zuletzt Artikel und Aufsätze beigesteuert hat.

Unter den zahlreichen wissenschaftlichen Büchern, die Rudolf Arnheim in den rund acht Jahrzehnten seines Schaffens veröffentlicht hat, nimmt der Band „Kunst und Sehen” eine Sonderstellung ein. Es ist das erste Hauptwerk der Zeit nach der Emigration. Konzipiert bereits Anfang der vierziger, niedergeschrieben zu Beginn der fünziger Jahre und in der ursprünglichen Fassung 1954 unter dem Titel „Art and Visual Perception – A Psychology of the Creative Eye” publiziert, stellt es das erste große, in englischer Sprache verfaßte Buch Arnheims dar. Darüber hinaus begründet es den Ruf und Ruhm seines Autors, indem es rasch international zum Standardwerk aufrückt. Zugleich wird über diese Darstellung der „Psychologie des schöpferischen Auges” der Rang einer neuen Forschungsrichtung sichtbar, die fortan als Kunstpsychologie etabliert ist. Zu dem genannten Sonderstatus, den „Kunst und Sehen” unter den Arnheimschen Schriften einnimmt, trägt nicht zuletzt der Umstand bei, daß dieses Buch in herausragender Weise jene beiden Interessen bündelt, die wie die Brennpunkte einer Ellipse die Forschungen des Autors repräsentieren, – die bildenden Künste als Gegenstandsfeld auf der einen und die psychologische Gestalttheorie als Methode und Erklärungsmodell auf der anderen Seite. Dabei reicht die Aufmerksamkeit und Begeisterung für die Kunst bis in die Kindheit zurück, als der junge Arnheim mit dem Jugendfreund und späteren Kunsthistoriker Kurt Badt durch die Berliner Museen gestreift ist.

Den Ausgangspunkt von „Kunst und Sehen” bildet eine aktuelle kulturkritische Bestandsaufnahme, deren knappes Resümee bereits der erste Satz enthält: „Die Kunst scheint in Gefahr, totgeredet zu werden.” Anders als mancher Zeitgenosse sieht Arnheim nicht die Kunst, sondern vielmehr deren Vermittlung in der Krise. Der Grund dafür ist insbesondere in einer erheblichen Beeinträchtigung der sensuellen und sensiblen Vermögen des Menschen zu suchen: „Wir haben die Gabe vernachlässigt, Dinge mit unseren Sinnen zu erfassen. Die Begriffe haben sich von den Wahrnehmungsbildern gelöst, und das Denken ergeht sich in Abstraktionen. Die angeborene Fähigkeit, etwas durch die Augen zu begreifen, ist eingeschläfert worden und muß erst wieder geweckt werden.” Der programmatische Hauptsatz des Buches lautet schließlich: „Alles Wahrnehmen ist auch Denken, alles Denken ist auch Intuition, alles Beobachten ist auch Erfinden.”

Der großen Untersuchung, die Arnheim mit „Kunst und Sehen” vorgelegt hat, liegt ein vergleichbar inspirierendes Buch voraus, das sich auf einem enger begrenzten Gebiet und in eher essayistischer Form durchaus verwandten Fragestellungen widmet. Mit „Film als Kunst” hat Arnheim 1932 ein Standardwerk zur „Ästhetik des Filmbildes” verfaßt, das der Klappentext der bei Rowohlt erschienenen Originalausgabe nur deshalb mit Recht als ein „grundlegendes kunstphilosophisches Werk” apostrophiert, weil der Begriff „kunstpsychologisch” damals noch kaum geläufig war. Knapper jedenfalls als mit dem zitierten Titel kann man die Idee und das Programm eines Buches, das sich einem damals immer noch recht neuen, vielfach übel beleumdeten und als „ordinär” gewerteten Massenmedium zuwendet, nicht auf einen Nenner bringen. Den Film als Kunst anzusehen, heißt für den Autor, ihn in die Tradition der bildenden Kunst zu rücken, nicht etwa um das technische Bildmedium zu nobilitieren, sondern weil in der Auffassung Arnheims das Filmbild wie das gemalte Bild genuin künstlerischen Gesetzen folgt. So möchte das Buch zeigen, „daß beim Film mit denselben Mitteln weitergearbeitet wird oder werden kann, wie sie von den anerkannten Künsten her gewohnt sind, und daß man wie über Tizian, Cézanne, Barock und Pleinairismus auch sehr ernsthaft über Charlie Chaplin, Greta Garbo, Schnittechnik und Schwenkstativ sprechen kann.” In „Film als Kunst” wird auch bereits das Manifest der Nüchternheit, Strenge und Basisarbeit des späteren Kunstpsychologen Arnheim in nuce angekündigt. Daß das Sehen als ein aktives Wahrnehmen zu begreifen ist und zu mehr als zu einem bloß pragmatischen „Orientierungsmittel” taugt, – diesem Grundsatz sind beide Publikationen verpflichtet, die frühe, aus Feuilletons der Weimarer Jahre erwachsene Schrift ebenso wie das spätere, vornehmlich aus dem Kontext von Forschung und Lehre hervorgegangene, theoretisch gefaßte Buch.

Arnheims Schriften sind durchweg zu Handbüchern aufgerückt. Neben den genannten Titeln sei nur an „Picasso`s Guernica” (1962), „Anschauliches Denken” (1969), „Entropie der Kunst” (1971), „Die Dynamik der architektonischen Form” (1977) oder „Die Macht der Mitte. Eine Kompositionslehre für die bildenden Künste” (1982) erinnert. Das allererste Buch lag bereits 1928 vor. Kein Geringerer als Kurt Tucholsky hat die Feuilletonsammlung damals rezensiert und dem Autor hellsichtig eine glänzende Zukunft prophezeit: „Wenn Sie den Rundfunk abgestellt haben und noch ein Stündchen lesen wollen, dann lesen sie ‘Die Stimme von der Galerie’. Der Rufer wird bald im Parkett sitzen.”

Daß der Verfasser derart zahlreicher Untersuchungen zu Fragen der Kunst gelegentlich als Kunsthistoriker, ja daß sein Werk unter die „Klassiker der Kunstgeschichte” eingereiht wird, kann nicht verwundern, beruht jedoch, wie der Autor immer wieder betont hat, auf einem Mißverständnis: Auch wenn die Phänomene der bildenden Kunst den bevorzugten Gegenstand seiner Publikationen abgäben, so unterscheide sich sein Blickwinkel doch erheblich von jenem der traditionellen Kunstgeschichte, indem ihn weniger die historischen, soziologischen oder ikonographischen als vielmehr die grundlegenden ästhetischen Aspekte von Form und Struktur sowie insbesondere die damit verbundenen wahrnehmungspsychologischen Fragestellungen und Gesetzmäßigkeiten beschäftigten.

Die eingangs erwähnten Fotoalben sind im übrigen in das Archiv des Kunstgeschichtlichen Seminars der Humboldt-Universität gelangt. Dort existiert seit dem Sommer 2000 die Rudolf Arnheim-Stiftungsprofessur für die Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, die Gästen aus dem Ausland vorbehalten ist. Angefragt, ob er als Patron fungieren würde, hat Arnheim sich in großer Bescheidenheit sehr geehrt gezeigt und in seinem Dankschreiben darüber hinaus angemerkt, sein Lebenswerk beruhe auf der deutschen Kultur. Jetzt ist es an der Zeit die intellektuelle Biographie dieser Jahrhundert-Gestalt zu verfassen, welche das Bild mit der Kunst, die Weimarer Republik mit der Gegenwart und Deutschland mit der Welt verbunden hat.

Michael Diers

(In leicht veränderter Fassung zuerst erschienen in:
Süddeutsche Zeitung Nr. 132 vom 12. Juni 2007, S. 14)

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