#26 Visionen einer Stadtmauer
Die Glasdiasammlung des Instituts enthält nicht nur Material, das nach und nach für die Lehrveranstaltungen beschafft wurde, sondern auch Konvolute, die aus anderen Zusammenhängen stammen. Im Schrank, der die Dias zur byzantinischen Architektur bewahrt, findet sich eine auffallende Reihe von suggestiven perspektivischen Rekonstruktionszeichnungen der Landmauer in Konstantinopel (heute Istanbul). Sie wurde ab 412 unter Kaiser Theodosius II. errichtet, um die auf einer Landzunge gelegene Stadt gegen Angriffe vom Festland her zu verteidigen. Der Bau war zunächst von der Abwehr der Hunnen veranlasst, leistete dann aber vor allem bei der Verteidigung gegen Araber und Türken bis zum finalen Fall Konstantinopels im Jahr 1452 entscheidende Dienste und gilt als eines der bedeutendsten Festungsbauwerke überhaupt.
Während die Beschriftungen über den Bildgegenstand Auskunft geben, fehlt jede Angabe der Bildquelle. Mit Hilfe der “umgekehrten” Bildsuche im Internet ließ sich jedoch schnell feststellen, dass es sich um die Tafeln des Werkes „Die Landmauer von Konstantinopel“ handelt, das vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) 1938 herausgegeben wurde. Autor des aufwändig publizierten Werks ist der Archäologe und Architekt Fritz Krischen, damals Professor für Baugeschichte und Formenlehre der Antike an der Technischen Hochschule in Danzig und u.a. Mitbegründer der Koldewey-Gesellschaft für baugeschichtliche Forschung.
Eine ungefähre zeitliche Einordnung der Bilder hätte sich freilich auch ohne die Buchvorlage vornehmen lassen. Die – gerade auch als Dias auf dem Leuchttisch sehr wirkungsvollen – Rekonstruktionen basieren zwar sicherlich auf den Baubefunden. Aufgrund der extremen Perspektiven sowie der Glättung und Überhöhung der Baukörper evozieren sie aber weniger spätrömische Mauerarchitektur sondern oszillieren im Gesamteindurck eher zwischen Neuem Bauen, Filmszenografien und megalomanen faschistischen Architekturvisionen.
Trotz ihres sehr einheitlichen Stils stammen die die 32 Perspektivzeichnungen allerdings nicht von von einer Hand und zudem nicht von Krischen selbst. Stattdessen wurden sie für ihn von seinen Mitarbeitern Walter Karnapp, Bruno Meyer und Klaus Petersen erstellt, wie im Vorwort angegeben ist.
Der Band, der diese Rekonstruktionszeichnungen (sowie einige Fotografien) enthält, war eigentlich nur als erster von mehreren Bänden konzipiert. Die Folgebände, die nie mehr erschienen, sollten vermutlich eine ausführlichere fotografische Dokumentation und vor allem einen umfangreichen Textapparat bieten. Dem Vorwort zufolge hat Theodor von Lüpke – damals Leiter Preußischen Meßbildanstalt bzw. Staatlichen Bildstelle – bei der Untersuchung der Mauer “529 Platten” aufgenommen. Wo sich die vermutlich großformatigen Negative heute befinden ist nicht bekannt, aber es ist zu hoffen, dass sie sich entweder in den Beständen des DAI oder im ehemaligen Meßbildarchiv, heute beim Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege, erhalten haben.
Nun stellt sich noch die Frage, woher die (bislang insgesamt 18) in unserem Archiv gefundenen Dias der Zeichnungen stammen. Schon die physische Beschaffenheit spricht für eine Herkunft aus der DDR-Zeit. Die beiden Glasplatten (s. Fundstück #25) sind mit einem zeittypischen Selbstklebestreifen verklebt – nämlich Luckanus Plast-Band, allgemein nach seinen Noppen und der beigen Farbe “Gänsehautband” genannt. Hierzu passt, dass das Kürzel D.B.A. vor der Inventarnummer auf die 1951 gegründete Bauakademie der DDR verweist.
Dort war fast von Beginn an Gerhard Strauss Direktor einer Abteilung, dem Institut für Theorie und Geschichte der Baukunst. Da Strauss 1958 Richard Hamann als Lehrstuhlinhaber in der Kunstgeschichte ablöste, kann fast mit Sicherheit geschlossen werden, dass ihm das Vorhandensein dieser und zahlreicher ähnlicher Dias zu verdanken ist. Der Wechsel dieses überzeugten Kommunisten fügte sich in die damalige Ideologisierungswelle des gesamten Bildungs- und Wissenschaftsbetriebs ein: Während die kunsthistorische Lehre stärker auf gesellschaftliche Aspekte ausgerichtet wurde, entfernte sich die Bauakademie von historischen und gestalterischen Arbeitsgebieten und fokussierte sich auf Technik- und Praxisfragen, etwa den Heizungsbau in Großwohnanlagen. Dabei wurden die architekturhistorischen Dias vermutlich als überflüssig angesehen und konnten an die Universität abgegeben werden. (G.S.)
(Link zu den Datensätzen: https://rs.cms.hu-berlin.de/ikb_mediathek/pages/search.php?search=%21collection598657)
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Die Diapositive und Fotos aus den Sammlungen des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte tragen verschiedenste Spuren ihrer Herstellung und Nutzung und sind damit immer auch ein Stück Institutsgeschichte, Fachgeschichte oder Medien- und Technikgeschichte.
Die hier in loser Reihe vorgestellten Fundstücke sind als solche gemeint: Immer wieder fallen einzelne Objekte auf – aufgrund ihrer Beschaffenheit, aufgrund ihre Bildinhalte, aufgrund eines sonstigen Umstands – und geben Anlass zu weiteren Beobachtungen, Überlegungen, oder kleinen Recherchen. Wenn sich dann eine erste Geschichte abzeichnet, wird sie hier gelegentlich präsentiert. Nicht als Forschungsergebnis, sondern eher als Beobachtung, Vermutung, Frage, die zu weiterer Forschung führen kann. Zusätzliches Wissen in Form von Ergänzungen, aber auch Korrekturen, ist stets willkommen (mediathek.kunstgeschichte@hu-berlin.de)