#29 Typologischer Bilderbogen
Auch wenn sich dieses Dia in dem der anonymen Schatz- und Kleinkunst gewidmeten Schrank 14 befindet und obwohl sich das darauf abgebildete Werk im hohen Mittelalter entstand – einer Zeit als individuelle Urheberschaft noch nicht unbedingt dokumentiert und überliefert wurde –, kennt man hier Urheber und Datierung genau. Der sogenannte Klosterneuburger Altar wurde von einem aus Verdun stammenden Meister Nikolaus geschaffen und war – wie dieser selbst in einer nicht zu übersehenden Inschrift angegeben hat – im Jahr 1181 vollendet. Bei Meister Nikolaus‘ Werk handelte es sich ursprünglich um einen Altarvorsatz aus 45 Einzelbildern, der im 14. Jahrhundert, der damaligen Mode entsprechend, zu einem Flügelretabel umgearbeitet wurde und in dieser Form noch heute in dem bei Wien gelegenen Prämonstratenserkloster bewundert werden kann.
In der alten Lehrsammlung befinden sich nach aktueller Kenntnis 24 Dias dieses Werks, die alle unterschiedliche Tafeln zeigen. Das für die Anfertigung der Dias zugrundeliegende Interesse dürfte nicht nur oder in erster Linie auf die formalen Merkmale des Altars gerichtet gewesen sein – hierfür hätten weniger Szenen genügt oder wären auch Gesamtaufnahmen zu erwarten –, sondern vor allem auf die Bildinhalte, die Ikonografie der Szenen.
Das nach der Herkunft seines Meisters auch Verduner Altar genannte Werk ist nicht zuletzt deswegen berühmt, weil es wie kein anderes die in der mitteltalterlichen Theologie allgegenwärtige Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament, die sogenannte Typologie, zeigt: In drei Reihen übereinander sind jeweils Ereignisse aus dem Alten Testament vor der Gesetzgebung durch Moses (oben), nach der Gesetzgebung (unten) sowie aus dem Neuen Testament (in der Mitte) dargestellt. Aus dieser mittleren Reihe stammt das zum morgigen Karfreitag passende Bild der Grablegung Jesu. Auf dem Dia ist wurde nachträglich in Bleistift markiert, dass sich das Bildfeld an 11. Stelle von links in der heutigen Anordnung befindet, mit – den auf dem Dia nicht sichtbaren – darüber und darunter liegenden Darstellungen von Joseph im Brunnen und Jonas im Bauch des Wals als zugeordneten Szenen des Alten Testaments.
Wie die anderen Dias dieses Gegenstands, die ähnlich beschriftet sind, wurde es vermutlich für eine der mit “Ikonographie des Mittelalters” betitelten Lehrveranstaltungen angefertigt, die Leopold Giese (s. a. Fundstück #27) in den Wintersemestern 1929/30, 1930/31 u. 1931/32 anbot. Hierauf deutet neben dem Bildinhalt das Kürzel „Gi“ hin, mit dem der Institutsfotograf wohl den Auftrag gekennzeichnet hat. Beim jetzigen Stand Katalogisierung ist ist es noch nicht möglich, die Inventarnummer 43576 einem der genannten Semester direkt zuzuordnen.
Die verblassten Beschriftungen, welliges Papier und Schlieren unter dem Glas zeigen einen Wasserschaden, den auch benachbarte Dias aufweisen. Ob dieser im Zuge der Beschädigung der Institutsräume im Zweiten Weltkrieg oder bei späteren Aufstellungen in Kellerräumen entstand, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Der Fotoschicht selbst hat die Behandlung anscheinend nicht geschadet. Die kontrastreiche Schwarzweissaufnahme, deren Vorlage unbekannt ist, bringt die grafischen Qualitäten der Bildschöpfungen Meister Nikolaus‘ nach wie vor hervorragend zur Ansicht. (G.S.)
(Aufruf aller Datensätze mit Glasdias vom Klosterneuburger Altar: https://rs.cms.hu-berlin.de/ikb_mediathek/pages/search.php?search=q1776474%2C+%40%4019203)
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Die Diapositive und Fotos aus den Sammlungen des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte tragen verschiedenste Spuren ihrer Herstellung und Nutzung und sind damit immer auch ein Stück Institutsgeschichte, Fachgeschichte oder Medien- und Technikgeschichte.
Die hier in loser Reihe vorgestellten Fundstücke sind als solche gemeint: Immer wieder fallen einzelne Objekte auf – aufgrund ihrer Beschaffenheit, aufgrund ihre Bildinhalte, aufgrund eines sonstigen Umstands – und geben Anlass zu weiteren Beobachtungen, Überlegungen, oder kleinen Recherchen. Wenn sich dann eine erste Geschichte abzeichnet, wird sie hier gelegentlich präsentiert. Nicht als Forschungsergebnis, sondern eher als Beobachtung, Vermutung, Frage, die zu weiterer Forschung führen kann. Zusätzliches Wissen in Form von Ergänzungen, aber auch Korrekturen, ist stets willkommen (mediathek.kunstgeschichte@hu-berlin.de). Im Text geäußerte Einschätzungen geben ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.