Visuelle Zeitgestaltung

17. Mai 2016 18.15 Uhr, Dorotheenstr. 26, Hörsaal 207: Dr. Hannelore Paflik-Huber “Begrenzte Unendlichkeit. Modelle der Zeit in der Gegenwartskunst” (Kunstwissenschaft/Philosophie)

Abendvortrag Begrenzte Unendlichkeit

Gestaltung: aroma, Berlin.

Foto: Anna Polze I Bild Wissen Gestaltung 2016

Foto: Anna Polze I Bild Wissen Gestaltung 2016

Bericht Vortrag Hannelore Paflik-Huber
Im Rahmen der Abendvortragsreihe des Projektes Visuelle Zeitgestaltung hielt Dr. Hannelore Paflik-Huber am 17.05. einen Vortrag mit dem Titel „Begrenzte Unendlichkeit. Modelle der Zeit in der Gegenwartskunst“ und bot Einblick in ihre aktuelle Forschung zum Thema. Ihr methodischer Zugang fand hierbei über die Sprache statt: Die künstlerischen Modelle der Zeit sieht sie als künstlerische Entsprechungen eines durch die Sprache gegebenen Faktums, dem ein ästhetischer Gehalt verliehen wird. Die Kunst ermöglicht beides in einem, Wahrnehmung und Erkenntnis von Zeit, so Paflik-Hubers These. Die Zeit als Konstruktion unseres Bewusstseins, der je nach wissenschaftlicher Disziplin ein eigener Zeitbegriff korrespondiert, wird in den künstlerischen Modellen nicht bloß illustriert. Zwar kennen die Künstler die aktuellen Thesen der Forschung – Paflik-Huber nennen als Beispiele Marcel Duchamps Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie Einsteins und William Kentridges Zusammenarbeit mit Peter Galison – doch erfahren die theoretischen Modelle der Zeit in der Kunst mehr als nur eine anschauliche Entsprechung. Die Kunst ist in Bezug auf die Zeit gleichzeitig Interpretation wie Visualisierung. Zeit wird auf eine besondere Weise denkbar, folgt man Paflik-Hubers Prämisse, dass wir maßgeblich in Bildern denken.

Die zahlreichen Beispiele ihres Vortrags hat sie derart gewählt, dass an ihnen immer eine bestimmte Einheit der Zeit erfahrbar wird: der Tag. Die künstlerischen Zugänge sind dabei sehr unterschiedlich, so stellte Hans Haacke die Geburtsurkunde seines Sohnes und den Tag als Markierung eines Lebensbeginns aus, Susanne Kriemann hingegen thematisiert den Tag als zirkuläre Zeit, indem sie in einem Künstlerbuch am Beispiel von Rotterdam die Zerstörung an einem Tag dem deutlich längeren Prozess des Wiederaufbaus gegenüberstellt. Einen besonderen Stellenwert nimmt der Tag im Werk von On Kawara ein, der von den 1960ern an bis zu seinem Tode 2014 Date Painting schuf, die in weißer Schrift auf monochromen Hintergrund lediglich das Datum ihres Entstehungstages zeigen. Jedes dieser Bilder ist Fragment eines Tages wie auch Nachweis der Existenz des Künstlers. Das Zugleich von Kontinuität und Diskontinuität der Date Paintings griff Jeppe Hein im Jahr 2000 auf, indem er vor den Bildern Kawaras eine Bank installierte, die sich im Verhältnis zum Körpergewicht entlang der Leinwände fortbewegt, um die Tage abzufahren.

Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Tag findet sich vor allem auch in der Videokunst wie Hannelore Paflik-Huber mit zahlreichen Beispielen verdeutlichte. Harun Farockis Film Ein Tag im Leben der Endverbraucher von 1993 ist ein Zusammenschnitt aus Fernsehwerbespots, in dem Ausschnitte jeweils zur passenden Tageszeit auftauchen, wie etwa der Moment des Aufstehens aus einer Kaffeewerbung zu Beginn des Tages. Ebenfalls mit Found Footage arbeitete Christian Marclay in The Clock von 2010. Der genau 24 Stunden dauernde Zusammenschnitt aus Spielfilmsehen setzt die chronometrische Realzeit des Ausstellungsbesuchers mit der Filmzeit zu einer „hyperrealen Übereinstimmung“, so Paflik-Huber, gleich. Gemein ist den ausgewählten Szenen, dass entweder eine Uhr zu sehen ist oder über die Zeit gesprochen wird. Wenn im Film ein Protagonist auf die Uhr sieht und 10 vor 12 Uhr mittags abließt, ist es im Ausstellungsraum ebenfalls 11:50 Uhr. Ebenso wie das abschließende Beispiel 24h Psycho (1993) von Douglas Gordon, indem der Künstler den berühmten Spielfilm von Alfred Hitchcock auf 24 Stunden ausdehnte, verdeutlichen die Videoarbeiten, das technische Potential, das der Kunst in der Auseinandersetzung mit Zeit zukommt: Sie kann gedehnt, beschleunigt und nach belieben angehalten werden. Auch wenn die künstlerischen Positionen die immer gleiche Zeiteinheit des Tages thematisieren, bilden sie mitunter sehr verschiedene Modelle der Wahrnehmung, die die Messbarkeit und subjektive Erfahrbarkeit des Tages je eigen verbinden. (Till Julian Huss)

04. November 2015 18.15 Uhr, Dorotheenstr. 26, Hörsaal 207: Prof. Dr. Gottfried Boehm “Über ikonische Zeit”

Gestaltung: aroma, Berlin

Gestaltung: aroma, Berlin

 

Vortrag Über ikonische Zeit, Prof. Dr. Gottfried Boehm, Foto: Aila Schultz

Foto: Aila Schultz

Bericht Vortrag Gottfried Boehm
Als Auftakt des Forschungsprojektes Visuelle Zeitgestaltung hielt Prof. Dr. Gottfried Boehm am Mittwoch den 04.11. einen Abendvortrag, in dem er seine theoretischen Grundlagen zur ikonischen Zeit mit Überlegungen zur Uhr verband. Der Punkt – wie auch die Plakatgestaltung von Andreas Eberlein (aroma) hervorhebt – war hierbei das Bindeglied: einerseits als Grundelement des Bildes, aus dem in zeitlicher Wechselwirkung mit anderen Elementen das Bildganze erst entsteht, und andererseits als Punkt einer mechanischen Rotationsbewegung der Uhr.

Die theoretische Grundlegung der ikonischen Zeit leitete Boehm mit dem Paradox der Bewegung im Stillstand ein, das er auch als Terrain des Forschungsprojektes auswies. Als bedeutende und auch verhängnisvolle Referenz gilt nach wie vor Lessings Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie von 1766, auf die ebenfalls Prof. Dr. Claudia Blümle in ihrer Einleitung hinwies. Lessings „mediale Reichsteilung“ in Raum- und Zeitkünste, wie Boehm ausführte, habe die Forschung wie auch die Kunst um die Chance gebracht, zu wesentlichen Einsichten in die Zeitlichkeit des Ikonischen zu kommen. So haben die Perspektivmalerei und Skulptur Zeit nur mittels der Bewegung von Körpern dargestellt. Erst durch die Überwindung dieser Auffassung und den Nachweis der Gleichursprünglichkeit von Zeit und Raum ist Zeit als konstitutives Phänomen des Ikonischen zu begreifen. Entgegen der traditionellen oppositionellen Vorstellung entfalten sich Bilder in der Zeit.

Gottfried Boehm rückte in seinem Vortrag das Wie der ikonischen Zeit in den Fokus – die Organisationsbedingungen, die ihre Wahrnehmung ermöglichen. Als zentrale Aspekte einer genuin ikonischen Zeitlogik stellte er einerseits in Anschluss an Paul Klee und Wassily Kandinsky den Punkt als ikonisches Minimum vor, der gleichzeitig Raumpunkt und Zeitpunkt ist. Andererseits nannte er den Zusammenhang zwischen sukzedierenden Teilen und dem simultanen Wahrnehmungsangebot als grundlegende Einsicht. In der sprachlichen Logik lassen sich Sukzession und Simultaneität niemals verbinden, in der ikonischen Logik schon, wie Boehm betont: Bilder handeln von dieser Verschränkung.

Seine exemplarischen Belege reichen von neolithischen Steinmasken über Mondrians den Blick delegierendes Gemälde Broadway Boogie Woogie von 1942/43 bis hin zu Étienne-Jules Mareys Chronophotographie, die unter die Trägheit des Auges gelange und eine mechanische Zeitform präsentiere. Hierbei verweist er stets auf eine Kraft, die nur als Äußere zu fassen ist. Sie sei als Lebendigkeit aufzufassen, zeitlicher Natur und unerschöpflich.

An dieses Gerüst seiner bisherigen theoretischen Überlegungen anschließend wandte sich Gottfried Boehm der gemessenen Zeit zu. Seine Ausführungen begann er mit dem Punkt als Agens, als ein Drehimpuls, der rotiert und sich um sich selbst dreht. Diesen Bewegungsmodus bezeichnete er als einen Amimetischen, der nicht in der Natur existiere. Die mechanische Räderuhr ist eine „Maschine mit Gesicht“, so Boehm. Ihrem Motor der hängenden Gewichte, die sich heben und senken, ist ein visuelles Zeigefeld vorgelagert, das zum zivilisatorischen Faktum wird. Man kann es sehen, und somit die Zeit. Ihre Erfahrbarkeit werde durch die Logik des Zeigefeldes aber transformiert, rationalisiert und auch normiert. Stunden, die zuvor nicht einheitlich wahrgenommen wurden, werden es nun. Boehm stellte drei grundlegende Aspekt der Räderuhr vor: (1) sie bewerkstelligt einen Übergang vom Unsichtbaren zum Sichtbaren, ihr Räderwerk spiegele hierbei das Räderwerk des Kosmos wider, (2) sie muss sich an einer primären Natur, einer physikalisch-kosmischen Dimension mit gleichen Stunden ausrichten und (3) sie ist an das Sehen adressiert und macht Zeit sinnlich wahrnehmbar. Ihre Technik minimiere aber die Spielräume der Einbildungskraft und führe zu einer kurzen und sachlichen Wahrnehmung. Der Räderuhr stellte Boehm das Astrolabium, auch Sternengreifer genannt, gegenüber: Als eine Art Peilungsgerät läge ihm ein gänzlich anderes Prinzip zugrunde, denn die Zeit sei bei ihr ein Resultat des Blickes.

Seinen Vortrag schloss Gottfried Boehm mit einer Revision des Topos der Vergänglichkeit als Zeitlichkeit des Stilllebens ab. Seine These war, dass diese allegorische Sicht keineswegs haltbar ist, um die Zeitform der Bildgattung zu charakterisieren. Anhand dreier Beispiele stellte er alternative Zeitmodi des Stilllebens vor. So wies er die Zeit in Gemälden von Juan Sánchez Cotán einerseits als Prozess der Verwesung und andererseits als Verharren in der Zeit wie ein Pendel im Ruhezustand aus. Das letzte Stillleben von Giorgio Morandi bringe im Kontinuum von Figur und Grund eine formlose Tiefe hervor und halte als Unruhe die visuellen Korrespondenzen in Gang. In den aufblühenden Tulpenfotografien von Cy Twombly schließlich gehe die dingliche Auflösung der Form im Grund auf ein prozessuales Wechselverhältnis von Schärfe und Unschärfe zurück.

Gottfried Boehms Ausführungen Über ikonische Zeit bilden den ersten Vortrag in einer Veranstaltungsreihe, die von Prof. Dr. Claudia Blümle, Prof. Dr. Christof Windgätter und Till Julian Huss konzipiert wird. Bis zum Sommer des kommenden Jahres finden weitere Abendvorträge statt, die durch Vertreter_innen verschiedener Disziplinen wie Medienwissenschaft, Designtheorie und Philosophie das Arbeitsfeld des Forschungsprojektes Visuelle Zeitgestaltung widerspiegeln sollen. (Till Julian Huss)

 

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