Visuelle Zeitgestaltung
Unser alltäglicher Umgang mit Bildern steht stets unter dem Einfluss der Zeit. Für eine Untersuchung der verschiedenen visuellen Eigenzeiten von Bildern sind dabei nicht nur die medialen Bedingungen zu berücksichtigen, sondern auch deren spezifischen Gestaltungsweisen. Ziel des Forschungsprojektes ist die ebenso historische wie systematische Erarbeitung der Möglichkeiten singulärer Modelle und der medialen Bedingungen visueller Zeitgestaltungen. In der Zusammenarbeit von Design, Designtheorie, Kunstgeschichte, Medientheorie und Philosophie soll ein interdisziplinärer Zugang zu diesem bisher blinden Fleck der Erforschung ästhetischer Eigenzeiten entwickelt werden. Das Projekt rückt dabei die Modellierung zeitlicher Phänomene in den Fokus. Solche Modelle können ein Wissen von Zeitlichkeit bestimmen, das maßgeblich aus visuellen Gestaltungen hervorgeht.
Projektleitung
Prof. Dr. Claudia Blümle
Prof. Dr. Claudia Mareis
Prof. Dr. Christof Windgätter
Mitglieder
Till Julian Huss
Vergangene Veranstaltungen
31. Mai 2016 18.15 Uhr, Dorotheenstr. 26, Hörsaal 207: Prof. Dr. Claudia Mareis “Die Zeitlichkeit des Entwerfens” (Designtheorie)
Als Abschluss der Abendvortragsreihe des Projektes Visuelle Zeitgestaltung hielt Prof. Dr. Claudia Mareis am Dienstag den 31. Mai einen Vortrag mit dem Titel „Die Zeitlichkeit des Entwerfens“, in dem sie Einblick in ihre aktuelle Forschung zu Modellen des Entwerfens gab. An einzelnen Modellen und deren Typisierung verdeutlichte sie, dass das Entwerfen nicht nur über spezifische epistemologische, ästhetische und praxistheoretischen Eigenlogiken verfügt sondern ebenso über Eigenzeiten. Durch die Segmentierung von Phasen, die Darstellung eines zeitlichen Verlaufs oder die zeitliche Koordination des Entwerfens wird der Prozess als ein zeitliches Konstrukt bestimmt, das Zeitlichkeit und Gerichtetheit eines Vorgangs miteinander verschränkt.
Zur genaueren Analyse unterscheidet Claudia Mareis verschiedene Typen der Modellierung von Entwurfsprozessen, die je unterschiedliche zeitliche und organisatorische Aspekte fokussieren. In den 1960ern wurden Prozessphasenmodelle entwickelt, die den Entwurfsprozess in einer sehr abstrakten und idealtypischen Form darstellten (vgl. Abb. 1, die bereits eine weitere Differenzierung der Phasen zeigt). Im Wesentlichen geben sie einen linearen dreigliedrigen Verlauf aus Recherche, Konzeption als „eigentliches“ Entwerfen und Evaluation wieder. Das Wechselspiel der ersten beiden Phasen, also zwischen der analytischen und synthetisch-kreativen, wurde in den 1960ern besonders zur Abgrenzung gegenüber Entwurfsmodellen anderer, vor allem naturwissenschaftlicher Disziplinen genutzt, indem die Synthese als „kreativer Gegenpart“ verstanden wurde. Mareis zitierte den Designmethodologen Sydney Gregory, in dessen Ausspruch „Science is analytic; design is constructive“ diese Selbstbestimmung pointiert zusammengefasst ist. Eine Weiterentwicklung der einfachen Phasenmodelle stellen die rückgekoppelten oder iterativen Modelle dar, die sich entweder an kybernetischen Feedback-Loops oder an zirkulären Formen des Problemumkreisens orientieren. Beide Arten der Modellierung zeichnet ein dynamischeres Verhältnis zur Ausgangslage und zu bereits bestehenden Lösungsansätzen aus. Die meisten Modelle dieser unterschiedlichen Typen folgen letzten Endes doch einem grundlegenden linearen Ablauf vom Input zum Output. Claudia Mareis wies darauf hin, dass sie trotz der versuchsweise nicht-linearen Darstellungsformen eine Fortschrittslogik und Teleologie produzieren, die bereits im Begriff des Prozesses durch seinen lateinischen Ursprung procedere als„vorwärts gehen“ steckt. Diese Entwicklungskonstanz korrespondiert mit Bestimmungen der Kreativität, die eine konkrete verwendbare Lösung oder ein Produkt als kreativ bewerten. Hierin äußert sich ebenso ein Innovationsnarrativ, das sich entgegen der Kritik als „erstaunlich hartnäckig“ erweist.
Im weiteren Verlauf ihres Vortrags stellte Claudia Mareis einen neueren Typus der Entwurfsmodellierung vor. Dieser hat seiner Zeitlichkeit nach einen projektiven Charakter, der sich – so der Designtheoretiker Gui Bonsiepe – zur Zukunft hin ausrichtet. Im Sinne Wolfgang Schäffners sind Entwürfe keine Objekte, sondern eher als in die Zukunft gerichtete Projekte zu beschreiben. Die Zukunftsorientierung zeichnet sich in den Entwurfsprozessen ebenso durch prozessuale Ergebnis- und Zielorientierung wie ständige Form- und Modellierbarkeit aus. Dieses Zeitlichkeitsmodell des Entwerfens ist in seiner Ausrichtung auf die Zukunft aber keineswegs vollständig, so Claudia Mareis kritische Diagnose. Alle vorgestellten Modelltypen folgen einer ähnlichen Vorstellung von Originalität und Neuartigkeit. Als alternatives Verständnis der Figur des Neuen stellt Mareis eine zyklische Wiederkehr von Stilaspekten und Trends vor und greift hierbei auf Boris Groys’ Konzept des Neuen als Umwertung des Bestehenden zurück: Neues tritt nicht mehr als zeit- und ursprungslose Schöpfung sondern als stabilisierende Konstante auf. Eine Verschränkung von Vergangenem und Zukünftigem korrespondiert eher dem zeitlich komprimierten Denkraum, in dem unterschiedliche Eigenzeiten aufeinandertreffen und sich überlagern. Derartige Formen der Gleich- und Mehrzeitigkeit werden in der Modellierung von Entwurfsprozessen kaum thematisiert, so Mareis. Ebenso gilt es, die historische Eigenzeitlichkeit der Modelle selbst zu erkennen, aus denen sich zeitgenössische Vorstellungen ableiten lassen. So zeigt sich, dass sich in den verschiedenen Entwurfsmodellen neben Zuschreibungen von Produktivität, Innovation und Fortschritt auch unhinterfragte historische Narrative spiegeln. (Till Julian Huss)
24. Mai 2016 18.15 Uhr, Dorotheenstr. 26, Hörsaal 207: Prof. Dr. Stefan Rieger “Zeitseeing. Zur biologischen Modellierung von Temporalität” (Medientheorie)
Bericht Vortrag Stefan Rieger
Am Dienstag den 24. Mai hielt Prof. Dr. Stefan Rieger im Rahmen der Abendvortragsreihe des Projektes Visuelle Zeitgestaltungen einen Vortrag mit dem Titel „Zeitseeing. Zur biologischen Modellierung von Temporalität“, in dem er am Beispiele der biologischen und zoologischen Forschung den Einfluss technischer Medien auf die Zeitwahrnehmung und damit auch die Generierung von Wissen untersuchte. Es besteht eine Homologie zwischen Medien und Epistemologie, das Wissen der Medien entspricht dem Wissen der Wissenschaften, so seine Ausgangsthese. In seiner Begründung konzentriert sich Rieger auf die Beteiligung der Aussageformen und -orte an der Modellierung von Zeit. Hierbei schließt er auch jenes „konjunkturelle Wissen“ ein, das etwa durch die Science Fiction Literatur und Filme produziert wird und deren technische Medien noch ausstehen. Gerade diese Zukunftsvisionen verdeutlichen den Stellenwert einer Beobachtung der „Spiele des Wissens“ an verschiedenen Schauplätzen. Gefordert werden hierfür unterschiedliche Perspektiven, so eine ästhetische und historische ebenso wie eine soziologische und technische.
In seiner Argumentation stützt sich Stefan Rieger einerseits auf medientheoretische Positionen wie Walter Benjamin, der in den neuen Verfahren der technischen Medien von Fotografie und Film die Möglichkeit sieht, durch Zeitraffung und -dehnung das „Optisch-Unbewusste“ sichtbar zu machen und Wissensbereiche sui generis offenzulegen. Andererseits bezieht Rieger maßgeblich Positionen der Biologie und Zoologie wie Jakob Johann von Uexküll und Karl Ernst von Baer ein, um der Frage nachzugehen, wie Lebewesen in Raum und Zeit erkennen, sich orientieren, Zeit modellieren und dadurch die Umwelt konstituieren. Von Uexküll forderte zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Simulation eines anderen Sehens die Nutzung alternativer Wahrnehmungsweisen, um Unterschiede in der Wahrnehmung nachzuweisen. Im Hamburger Institut von Uexküll wurde etwa in einem Experiment nachgewiesen, dass der Moment, als kleinste wahrnehmbare Zeiteinheit, für eine Schnecke auf 1/4 Sekunde festgelegt werden kann, im Kontrast zum Menschen, für den der Moment mit 1/10 Sekunde definiert wird. Anders verhält es sich wiederum beim Kampffisch dessen Moment einer 1/30 Sekunde entspricht. Diese Zugangsweise zur Zeit spiegelt sich auch in der Forschung von Baer wieder: Ihm gilt es, die absolute Zeit der Physik durch ein zeitliches Grundmaß zu ersetzen, das in den Lesewesen selbst veranlagt ist.
Mittels technischer Medien können Gedankenexperimente umgesetzt werden, die ein anderes Sehen vermitteln. Hierin liegt, so Rieger, die epistemologische Chance der Technik, wie Benjamin bereits für die Kamera feststellte. Diese Experimente ermöglichen auch eine Rückadressierung an den Menschen. So formuliert Rieger die These, dass Tiere, vermittelt über Dispositive, dem Menschen seine eigene Wahrnehmung vor Augen stellen. In den Gedankenexperimenten nach von Baer kann schließlich auch eine synthetische Grenzüberschreitung physiologischer Wahrnehmungswelten stattfinden. Stefan Rieger verweist hierbei auf Beispiele des Unterhaltungskinos: In der „bullet time“ im Film Matrix (1999), bewegt sich die Kamera im angehaltenen Moment frei um Objekte herum. Diese wie auch andere Zeitmodellierungen der technischen Medien erschließen einen Raum anderer Wahrnehmung und Phantasmatik. Für den aktuellen zeittheoretischen Diskurs stellt Rieger in Aussicht, dass die Schnittstellen zwischen künstlerischer Nachstellung und natürlicher Verkörperung als ästhetische Eigenzeiten gesehen werden können. Zeitmodellierungen fungieren hierbei als Alterität. Ihre Andersartigkeit kann nur ausgestellt und als Argument verwendet werden, wenn sie nicht direkt wieder in ein Beziehungsgefüge geschaltet wird.
Abschließend führt Stefan Rieger noch einen Kritiker der Beschleunigung und Quantifizierung von Zeitwahrnehmung an: Der Zoologe und Meeresforscher Hans Hass verbindet in einem Experimentalfilm die Großstadt mit der Almwiese als Gegenpol. Szenerien beider Orte setzt Hass in Zeitraffer und gibt so Einblicke in die zeitliche Ordnungsstruktur, die ihren eigenen Regeln folgt. Es entsteht ein „rhythmisch pulsierendes Muster“, in dem Repetition und Kommunikation als Effekte veränderter Geschwindigkeiten auftreten. (Till Julian Huss)